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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Thetis ihr Werk zu vollbringen, sie ließ den unmündigen
Sohn, der auf diese Weise sterblich geblieben war, trostlos
liegen, entfernte sich und kehrte nicht mehr in den Pallast
ihres Gatten zurück, sondern entwich in das feuchte Wellen¬
reich der Nereiden. Peleus aber, der seinen Knaben gefähr¬
lich verwundet glaubte, hub ihn vom Boden auf und
brachte ihn zu dem großen Wundarzt, dem Erzieher so
vieler Helden, dem weisen Centauren Chiron. Dieser nahm
ihn liebreich auf, und nährte den Knaben mit Bärenmark
und mit der Leber von Löwen und Ebern. Als nun
Achilles neun Jahre alt war, erklärte der griechische Seher
Kalchas, daß die ferne Stadt Troja in Asien, welcher der
Untergang durch griechische Waffen bevorstehe, ohne diesen
Knaben nicht werde erobert werden können. Diese Wahr¬
sagung drang auch zu seiner Mutter Thetis hinab zur
See in ihr unsterbliches Ohr, und weil sie wußte, daß
jener Feldzug ihrem Sohn den Tod bringen würde, so
stieg sie wieder empor aus dem Meere, schlich sich in ihres
Gatten Pallast, steckte den Knaben in Mädchenkleider, und
brachte ihn in dieser Verwandlung zu dem Könige Lyko¬
medes auf der Insel Scyros, der ihn unter seinen Mäd¬
chen als Jungfrau heranwachsen ließ und in weiblichen
Arbeiten großzog. Als aber dem Jüngling der Flaum um
das Kinn zu keimen anfing, entdeckte er sich in seiner Ver¬
kleidung der lieblichen Tochter des Königes, Deidamia.
Die gleiche zärtliche Neigung vereinigte in der Verborgen¬
heit den Heldenjüngling mit der königlichen Jungfrau und
während er bei allen Bewohnern der Insel für eine Ver¬
wandte des Königs galt und auch bei Deidamia für nichts
anderes gelten sollte, war er heimlich ihr Gemahl gewor¬
den. Jetzt, wo der Göttersohn zur Besiegung Troja's

Thetis ihr Werk zu vollbringen, ſie ließ den unmündigen
Sohn, der auf dieſe Weiſe ſterblich geblieben war, troſtlos
liegen, entfernte ſich und kehrte nicht mehr in den Pallaſt
ihres Gatten zurück, ſondern entwich in das feuchte Wellen¬
reich der Nereiden. Peleus aber, der ſeinen Knaben gefähr¬
lich verwundet glaubte, hub ihn vom Boden auf und
brachte ihn zu dem großen Wundarzt, dem Erzieher ſo
vieler Helden, dem weiſen Centauren Chiron. Dieſer nahm
ihn liebreich auf, und nährte den Knaben mit Bärenmark
und mit der Leber von Löwen und Ebern. Als nun
Achilles neun Jahre alt war, erklärte der griechiſche Seher
Kalchas, daß die ferne Stadt Troja in Aſien, welcher der
Untergang durch griechiſche Waffen bevorſtehe, ohne dieſen
Knaben nicht werde erobert werden können. Dieſe Wahr¬
ſagung drang auch zu ſeiner Mutter Thetis hinab zur
See in ihr unſterbliches Ohr, und weil ſie wußte, daß
jener Feldzug ihrem Sohn den Tod bringen würde, ſo
ſtieg ſie wieder empor aus dem Meere, ſchlich ſich in ihres
Gatten Pallaſt, ſteckte den Knaben in Mädchenkleider, und
brachte ihn in dieſer Verwandlung zu dem Könige Lyko¬
medes auf der Inſel Scyros, der ihn unter ſeinen Mäd¬
chen als Jungfrau heranwachſen ließ und in weiblichen
Arbeiten großzog. Als aber dem Jüngling der Flaum um
das Kinn zu keimen anfing, entdeckte er ſich in ſeiner Ver¬
kleidung der lieblichen Tochter des Königes, Dëidamia.
Die gleiche zärtliche Neigung vereinigte in der Verborgen¬
heit den Heldenjüngling mit der königlichen Jungfrau und
während er bei allen Bewohnern der Inſel für eine Ver¬
wandte des Königs galt und auch bei Dëidamia für nichts
anderes gelten ſollte, war er heimlich ihr Gemahl gewor¬
den. Jetzt, wo der Götterſohn zur Beſiegung Troja's

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[22/0044] Thetis ihr Werk zu vollbringen, ſie ließ den unmündigen Sohn, der auf dieſe Weiſe ſterblich geblieben war, troſtlos liegen, entfernte ſich und kehrte nicht mehr in den Pallaſt ihres Gatten zurück, ſondern entwich in das feuchte Wellen¬ reich der Nereiden. Peleus aber, der ſeinen Knaben gefähr¬ lich verwundet glaubte, hub ihn vom Boden auf und brachte ihn zu dem großen Wundarzt, dem Erzieher ſo vieler Helden, dem weiſen Centauren Chiron. Dieſer nahm ihn liebreich auf, und nährte den Knaben mit Bärenmark und mit der Leber von Löwen und Ebern. Als nun Achilles neun Jahre alt war, erklärte der griechiſche Seher Kalchas, daß die ferne Stadt Troja in Aſien, welcher der Untergang durch griechiſche Waffen bevorſtehe, ohne dieſen Knaben nicht werde erobert werden können. Dieſe Wahr¬ ſagung drang auch zu ſeiner Mutter Thetis hinab zur See in ihr unſterbliches Ohr, und weil ſie wußte, daß jener Feldzug ihrem Sohn den Tod bringen würde, ſo ſtieg ſie wieder empor aus dem Meere, ſchlich ſich in ihres Gatten Pallaſt, ſteckte den Knaben in Mädchenkleider, und brachte ihn in dieſer Verwandlung zu dem Könige Lyko¬ medes auf der Inſel Scyros, der ihn unter ſeinen Mäd¬ chen als Jungfrau heranwachſen ließ und in weiblichen Arbeiten großzog. Als aber dem Jüngling der Flaum um das Kinn zu keimen anfing, entdeckte er ſich in ſeiner Ver¬ kleidung der lieblichen Tochter des Königes, Dëidamia. Die gleiche zärtliche Neigung vereinigte in der Verborgen¬ heit den Heldenjüngling mit der königlichen Jungfrau und während er bei allen Bewohnern der Inſel für eine Ver¬ wandte des Königs galt und auch bei Dëidamia für nichts anderes gelten ſollte, war er heimlich ihr Gemahl gewor¬ den. Jetzt, wo der Götterſohn zur Beſiegung Troja's

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/44>, abgerufen am 29.03.2024.