Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Goldes, die der trügerische Odysseus dort versteckt hatte,
unter seiner Lagerstätte aufgefunden. Die Richter, nichts vom
wahren Vorgang der Sache ahnend, sprachen einstimmig
das Todesurtheil aus. Palamedes würdigte sie keiner
Selbstvertheidigung: er durchschaute den Trug, aber er
hatte keine Hoffnung, Beweise seiner Unschuld, so wie der
Schuld seines Gegners vorzubringen. Als daher das
Urtheil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach
er nur in die Worte aus: "O ihr Griechen, ihr tödtet
die gelehrteste, die unschuldigste, die gesangreichste Nach¬
tigall!" Die verblendeten Fürsten lachten über diese Ver¬
theidigung, und führten den edelsten Mann im griechischen
Heere zum unbarmherzigsten Tode fort, den er mit hel¬
denmüthiger Standhaftigkeit ertrug. Als ihn schon die
ersten Steinwürfe niedergeschmettert hatten, brach er noch
in die Worte aus: "Freue dich, Wahrheit, du bist noch
vor mir gestorben!" Als er diese Worte gesprochen, fuhr
ihm, von Odysseus rachsüchtiger Hand geschleudert, ein
Stein an die Schläfe, daß er umsank und starb. Aber
Nemesis, die Göttin der Gerechtigkeit, schaute vom Him¬
mel herab, und beschloß, den Griechen und ihrem Ver¬
führer Odysseus noch am Ziel ihrer Thaten die Missethat
zu vergelten.


Thaten des Achilles und Ajax.

Von den nächsten Kriegsjahren vor Troja erzählt die
Sage nichts Ausführliches. Die Griechen lagen nicht
unthätig vor Troja, da aber die Bewohner dieser Stadt

Goldes, die der trügeriſche Odyſſeus dort verſteckt hatte,
unter ſeiner Lagerſtätte aufgefunden. Die Richter, nichts vom
wahren Vorgang der Sache ahnend, ſprachen einſtimmig
das Todesurtheil aus. Palamedes würdigte ſie keiner
Selbſtvertheidigung: er durchſchaute den Trug, aber er
hatte keine Hoffnung, Beweiſe ſeiner Unſchuld, ſo wie der
Schuld ſeines Gegners vorzubringen. Als daher das
Urtheil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach
er nur in die Worte aus: „O ihr Griechen, ihr tödtet
die gelehrteſte, die unſchuldigſte, die geſangreichſte Nach¬
tigall!“ Die verblendeten Fürſten lachten über dieſe Ver¬
theidigung, und führten den edelſten Mann im griechiſchen
Heere zum unbarmherzigſten Tode fort, den er mit hel¬
denmüthiger Standhaftigkeit ertrug. Als ihn ſchon die
erſten Steinwürfe niedergeſchmettert hatten, brach er noch
in die Worte aus: „Freue dich, Wahrheit, du biſt noch
vor mir geſtorben!“ Als er dieſe Worte geſprochen, fuhr
ihm, von Odyſſeus rachſüchtiger Hand geſchleudert, ein
Stein an die Schläfe, daß er umſank und ſtarb. Aber
Nemeſis, die Göttin der Gerechtigkeit, ſchaute vom Him¬
mel herab, und beſchloß, den Griechen und ihrem Ver¬
führer Odyſſeus noch am Ziel ihrer Thaten die Miſſethat
zu vergelten.


Thaten des Achilles und Ajax.

Von den nächſten Kriegsjahren vor Troja erzählt die
Sage nichts Ausführliches. Die Griechen lagen nicht
unthätig vor Troja, da aber die Bewohner dieſer Stadt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0095" n="73"/>
Goldes, die der trügeri&#x017F;che Ody&#x017F;&#x017F;eus dort ver&#x017F;teckt hatte,<lb/>
unter &#x017F;einer Lager&#x017F;tätte aufgefunden. Die Richter, nichts vom<lb/>
wahren Vorgang der Sache ahnend, &#x017F;prachen ein&#x017F;timmig<lb/>
das Todesurtheil aus. Palamedes würdigte &#x017F;ie keiner<lb/>
Selb&#x017F;tvertheidigung: er durch&#x017F;chaute den Trug, aber er<lb/>
hatte keine Hoffnung, Bewei&#x017F;e &#x017F;einer Un&#x017F;chuld, &#x017F;o wie der<lb/>
Schuld &#x017F;eines Gegners vorzubringen. Als daher das<lb/>
Urtheil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach<lb/>
er nur in die Worte aus: &#x201E;O ihr Griechen, ihr tödtet<lb/>
die gelehrte&#x017F;te, die un&#x017F;chuldig&#x017F;te, die ge&#x017F;angreich&#x017F;te Nach¬<lb/>
tigall!&#x201C; Die verblendeten Für&#x017F;ten lachten über die&#x017F;e Ver¬<lb/>
theidigung, und führten den edel&#x017F;ten Mann im griechi&#x017F;chen<lb/>
Heere zum unbarmherzig&#x017F;ten Tode fort, den er mit hel¬<lb/>
denmüthiger Standhaftigkeit ertrug. Als ihn &#x017F;chon die<lb/>
er&#x017F;ten Steinwürfe niederge&#x017F;chmettert hatten, brach er noch<lb/>
in die Worte aus: &#x201E;Freue dich, Wahrheit, du bi&#x017F;t noch<lb/>
vor mir ge&#x017F;torben!&#x201C; Als er die&#x017F;e Worte ge&#x017F;prochen, fuhr<lb/>
ihm, von Ody&#x017F;&#x017F;eus rach&#x017F;üchtiger Hand ge&#x017F;chleudert, ein<lb/>
Stein an die Schläfe, daß er um&#x017F;ank und &#x017F;tarb. Aber<lb/>
Neme&#x017F;is, die Göttin der Gerechtigkeit, &#x017F;chaute vom Him¬<lb/>
mel herab, und be&#x017F;chloß, den Griechen und ihrem Ver¬<lb/>
führer Ody&#x017F;&#x017F;eus noch am Ziel ihrer Thaten die Mi&#x017F;&#x017F;ethat<lb/>
zu vergelten.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Thaten des Achilles und Ajax.</hi><lb/>
          </head>
          <p>Von den näch&#x017F;ten Kriegsjahren vor Troja erzählt die<lb/>
Sage nichts Ausführliches. Die Griechen lagen nicht<lb/>
unthätig vor Troja, da aber die Bewohner die&#x017F;er Stadt<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0095] Goldes, die der trügeriſche Odyſſeus dort verſteckt hatte, unter ſeiner Lagerſtätte aufgefunden. Die Richter, nichts vom wahren Vorgang der Sache ahnend, ſprachen einſtimmig das Todesurtheil aus. Palamedes würdigte ſie keiner Selbſtvertheidigung: er durchſchaute den Trug, aber er hatte keine Hoffnung, Beweiſe ſeiner Unſchuld, ſo wie der Schuld ſeines Gegners vorzubringen. Als daher das Urtheil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach er nur in die Worte aus: „O ihr Griechen, ihr tödtet die gelehrteſte, die unſchuldigſte, die geſangreichſte Nach¬ tigall!“ Die verblendeten Fürſten lachten über dieſe Ver¬ theidigung, und führten den edelſten Mann im griechiſchen Heere zum unbarmherzigſten Tode fort, den er mit hel¬ denmüthiger Standhaftigkeit ertrug. Als ihn ſchon die erſten Steinwürfe niedergeſchmettert hatten, brach er noch in die Worte aus: „Freue dich, Wahrheit, du biſt noch vor mir geſtorben!“ Als er dieſe Worte geſprochen, fuhr ihm, von Odyſſeus rachſüchtiger Hand geſchleudert, ein Stein an die Schläfe, daß er umſank und ſtarb. Aber Nemeſis, die Göttin der Gerechtigkeit, ſchaute vom Him¬ mel herab, und beſchloß, den Griechen und ihrem Ver¬ führer Odyſſeus noch am Ziel ihrer Thaten die Miſſethat zu vergelten. Thaten des Achilles und Ajax. Von den nächſten Kriegsjahren vor Troja erzählt die Sage nichts Ausführliches. Die Griechen lagen nicht unthätig vor Troja, da aber die Bewohner dieſer Stadt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/95
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/95>, abgerufen am 28.03.2024.