Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

gener, kenntnissvoller Mann, bey dem Herz und Kopf
gehörig im Gleichgewicht stehen. Die Hierarchie wird
wieder in ihrer grössten Ausdehnung eingeführt; und
was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst
Du berechnen. Die Klöster nehmen alle ihre Güter
mit Strenge wieder in Besitz, die eingezogenen Kir¬
chen werden wieder geheiligt, und alle Prälaten be¬
haupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da
mästen sich wieder die Mönche, und wer bekümmert
sich darum, dass das Volk hungert? Die Strassen sind
nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler
sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich
weiss, dass bey meinem Hierseyn an einem Tage fünf
bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich
selbst habe Einige niederfallen und sterben sehen.
Rührt dieses das geistliche Mastheer? Der Ausdruck
ist empörend, aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes
Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit
dem Alten. Als die Leiche Pius des Sechsten prächtig
eingebracht wurde, damit die Exequien noch prächti¬
ger gehalten werden könnten, erhob sich selbst aus
dem gläubigen Gedränge ein Fünkchen Vernunft in
dem dumpfen Gemurmel, dass man so viel Lärm und
Kosten mit einem Todten mache und die Lebendigen
im Elende verhungern lasse. Rom ist oft die Kloake
der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als
jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Poli¬
zey; auf dem Lande noch weniger als in der Stadt:
und wenn die Menschheit nicht noch tiefer gesunken
ist, als sie wirklich liegt, so kommt es bloss daher,
weil man das Göttliche in der Natur durch die grösste

gener, kenntniſsvoller Mann, bey dem Herz und Kopf
gehörig im Gleichgewicht stehen. Die Hierarchie wird
wieder in ihrer gröſsten Ausdehnung eingeführt; und
was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst
Du berechnen. Die Klöster nehmen alle ihre Güter
mit Strenge wieder in Besitz, die eingezogenen Kir¬
chen werden wieder geheiligt, und alle Prälaten be¬
haupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da
mästen sich wieder die Mönche, und wer bekümmert
sich darum, daſs das Volk hungert? Die Straſsen sind
nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler
sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich
weiſs, daſs bey meinem Hierseyn an einem Tage fünf
bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich
selbst habe Einige niederfallen und sterben sehen.
Rührt dieses das geistliche Mastheer? Der Ausdruck
ist empörend, aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes
Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit
dem Alten. Als die Leiche Pius des Sechsten prächtig
eingebracht wurde, damit die Exequien noch prächti¬
ger gehalten werden könnten, erhob sich selbst aus
dem gläubigen Gedränge ein Fünkchen Vernunft in
dem dumpfen Gemurmel, daſs man so viel Lärm und
Kosten mit einem Todten mache und die Lebendigen
im Elende verhungern lasse. Rom ist oft die Kloake
der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als
jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Poli¬
zey; auf dem Lande noch weniger als in der Stadt:
und wenn die Menschheit nicht noch tiefer gesunken
ist, als sie wirklich liegt, so kommt es bloſs daher,
weil man das Göttliche in der Natur durch die gröſste

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0392" n="364 "/>
gener, kenntni&#x017F;svoller Mann, bey dem Herz und Kopf<lb/>
gehörig im Gleichgewicht stehen. Die Hierarchie wird<lb/>
wieder in ihrer grö&#x017F;sten Ausdehnung eingeführt; und<lb/>
was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst<lb/>
Du berechnen. Die Klöster nehmen alle ihre Güter<lb/>
mit Strenge wieder in Besitz, die eingezogenen Kir¬<lb/>
chen werden wieder geheiligt, und alle Prälaten be¬<lb/>
haupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da<lb/>
mästen sich wieder die Mönche, und wer bekümmert<lb/>
sich darum, da&#x017F;s das Volk hungert? Die Stra&#x017F;sen sind<lb/>
nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler<lb/>
sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich<lb/>
wei&#x017F;s, da&#x017F;s bey meinem Hierseyn an einem Tage fünf<lb/>
bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich<lb/>
selbst habe Einige niederfallen und sterben sehen.<lb/>
Rührt dieses das geistliche Mastheer? Der Ausdruck<lb/>
ist empörend, aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes<lb/>
Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit<lb/>
dem Alten. Als die Leiche Pius des Sechsten prächtig<lb/>
eingebracht wurde, damit die Exequien noch prächti¬<lb/>
ger gehalten werden könnten, erhob sich selbst aus<lb/>
dem gläubigen Gedränge ein Fünkchen Vernunft in<lb/>
dem dumpfen Gemurmel, da&#x017F;s man so viel Lärm und<lb/>
Kosten mit einem Todten mache und die Lebendigen<lb/>
im Elende verhungern lasse. Rom ist oft die Kloake<lb/>
der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als<lb/>
jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Poli¬<lb/>
zey; auf dem Lande noch weniger als in der Stadt:<lb/>
und wenn die Menschheit nicht noch tiefer gesunken<lb/>
ist, als sie wirklich liegt, so kommt es blo&#x017F;s daher,<lb/>
weil man das Göttliche in der Natur durch die grö&#x017F;ste<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[364 /0392] gener, kenntniſsvoller Mann, bey dem Herz und Kopf gehörig im Gleichgewicht stehen. Die Hierarchie wird wieder in ihrer gröſsten Ausdehnung eingeführt; und was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst Du berechnen. Die Klöster nehmen alle ihre Güter mit Strenge wieder in Besitz, die eingezogenen Kir¬ chen werden wieder geheiligt, und alle Prälaten be¬ haupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da mästen sich wieder die Mönche, und wer bekümmert sich darum, daſs das Volk hungert? Die Straſsen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiſs, daſs bey meinem Hierseyn an einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich selbst habe Einige niederfallen und sterben sehen. Rührt dieses das geistliche Mastheer? Der Ausdruck ist empörend, aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit dem Alten. Als die Leiche Pius des Sechsten prächtig eingebracht wurde, damit die Exequien noch prächti¬ ger gehalten werden könnten, erhob sich selbst aus dem gläubigen Gedränge ein Fünkchen Vernunft in dem dumpfen Gemurmel, daſs man so viel Lärm und Kosten mit einem Todten mache und die Lebendigen im Elende verhungern lasse. Rom ist oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Poli¬ zey; auf dem Lande noch weniger als in der Stadt: und wenn die Menschheit nicht noch tiefer gesunken ist, als sie wirklich liegt, so kommt es bloſs daher, weil man das Göttliche in der Natur durch die gröſste

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/392
Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 364 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/392>, abgerufen am 28.03.2024.