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Steinbach, H.: Die Dümmsten und die Schlauesten. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Ersten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 19. März 1911, S. 10.

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Die Dümmsten und die Schlauesten.

Beide kommen mit der gleichen Frage: "Was sollen denn
die Weiber an der Gesetzgebungsmaschine?", wenn man ihnen
klar zu machen sucht, daß es keine, aber auch absolut keine
einzige Materie gibt, bei deren gesetzlicher Festlegung die eine
Hälfte der Menschheit - die größte noch obendrein, denn das
sind wir Frauen doch nun einmal - nicht dasselbe, ja in ver-
schiedenem ein größeres Jnteresse habe als die männliche Hälfte,
daß es deshalb einfach grober Unfug ist, den Frauen das Recht
vorzuenthalten, bei der Wahl von "Gesetzmachern" auch ihre
Stimme abzugeben und selbst als Gesetzgeber gewählt zu wer-
den. Was machen denn heute die Majoritäten, die "edlen",
"hochgebildeten" Männer, die "Herren der Schöpfung" für famose
Gesetze? Sind sie jetzt nicht wieder allüberall im "allerchrist-
lichsten" Deutschland, dem "Musterland der sozialen Fürsorge"
mit Feuereifer darauf aus, die mit unsäglichen Mühen und
größten Opfern aufgebauten Konsumentenorganisationen
durch eine "Umsatzsteuer" zu erdrosseln?

Eine ungeheure Fülle von Beweismaterial liegt für die Not-
wendigkeit vor, auch den Millionen des weiblichen Proletariats
das gleiche, allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht zu geben.
Von Tausenden nur ein Beispiel dafür:

Jm Eulengebirge, im Weberdorf Langenbielau, wo
schon vor mehr als sechzig Jahren die ausgemergelten Weber
zu Hungerrevolten gegen ihre unmenschlichen Ausbeuter ge-
trieben wurden - siehe Gerhart Hauptmanns "Weber" - ,
tat sich vor zirka zehn Jahren eine kleine Anzahl mutiger,
denkender Arbeiter zusammen. Nach dem Muster der drei-
zehn Flanellweber zu Rochdale in England, den "red-
lichen Pionieren", gründeten sie 1900 eine Konsumgenossen-
schaft. Dank unermüdlicher Agitation unter den eng zusammen-
wohnenden Leidensgefährten wuchs der Verein von Woche zu
Woche. Die Weber und ihre Frauen sahen bald ein, daß es
vernunftgemäß sei, ihre sauer verdienten Pfennige ins eigene
Geschäft zu tragen, statt so und so viel Zwischenhändler den
Unternehmensprofit einsäckeln zu lassen. Darob natürlich großes
Geschrei unter den "geschädigten" Krämern usw., die ihrem
Privatprofit nachweinten. Mit Hilfe der um ihre Stimmen
buhlenden "Mittelstandsretter" haben sie es fertig gebracht,
die dortige von Gott eingesetzte Regierung - ein Begriff zum
Heulen schön - dazu zu drängen, den aufblühenden Arbeiter-
konsumverein mit einer ganz ungeheuerlichen Umsatzsteuer zu
belasten. Der Ertrag davon wurde durch Beamte, die die Kom-
mune bezahlt, den Krämern, Bäckern, Schlächtern, sogar dem
Schnapswirt direkt ins Haus getragen! Diese Organisation
von Konsumenten, die kaum das nackte Leben fristen können,
muss heute infolge dieser wahnsinnigen Steuergesetzgebung die
ganz ungeheure Summe von 21 095 Mk. von ihren zusammen-
getragenen Spargroschen hergeben!

Vor einigen Jahren sprach ich in Langenbielau in einer
Agitationsversammlung des Konsumvereins. Der Vorsitzende
zeigte mir einen Mann im Saale, der ihn eines Tages auf-
gefordert hatte, in der Nacht mit ihm zusammen ein Schwein
wieder auszugraben, das an einer Seuche krepiert war und
schon 21 Stunden in der Erde eingegraben lag - im Hoch-
sommer bei 20 Grad Wärme! Der Mann wollte gern einmal
einen Sonntagsbraten für seine Familie haben! Er verdiente
mit seiner Frau zusammen 10 Mk. pro Woche, und die beiden
hatten vier Kinder. Was ist gegen das ersehnte krepierte Schwein
des halb verhungerten Webers das kleine "betuliche Hünd-
chen", das der alte Baumert in Gerhart Hauptmanns Weber-
drama schlachtet! Die Wirklichkeit ist unendlich viel grausamer
und scheußlicher, als eine Dichterphantasie sie zu schildern vermag.

[Spaltenumbruch]

Und da gibt es vom "Volk", das heißt von einem Teil des
Männervolks gewählte "Gesetzmacher", die den Konsumver-
einsumsatz solcher trostlos armer Arbeiter mit einer "Umsatzsteuer"
zu belegen wagen! Diese Steuer schluckt einen großen Teil der
Ersparnisse auf, die durch den gemeinschaftlichen Wareneinkauf
der Bedarfsartikel erzielt werden, die der schandhafte Zoll- und
Steuerwucher so verteuert hat. Und für die Armen hat doch
jeder ersparte Pfennig Bedeutung.

Jch wende mich nun an die Leser und Leserinnen und be-
sonders an diejenigen unter ihnen, die heute schon aufgeklärt
und vernünftig genug sind, als Mitglieder eines Konsumvereins
die starke Macht ihrer Kaufkraft im proletarischen Klasseninteresse
"mobil" machen zu wollen. Jch frage Sie: Wäre es denkbar, wenn
Frauen, Proletarierfrauen in den Parlamenten säßen,
daß solche himmelschreiende Gesetze erlassen werden
könnten
?

Es gilt alles daranzusetzen, daß wir an der Hand von Tat-
sachen den Massen der uns heute noch verständnislos gegen-
überstehenden Frauen die richtige Antwort beibringen auf die
dumme Frage: "Was sollen die Weiber an der Gesetzgebungs-
maschine?" Die Schlauen, die jetzigen Machtgeber, wissen die
Antwort nur zu gut.

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Die Dümmsten und die Schlauesten.

Beide kommen mit der gleichen Frage: „Was sollen denn
die Weiber an der Gesetzgebungsmaschine?‟, wenn man ihnen
klar zu machen sucht, daß es keine, aber auch absolut keine
einzige Materie gibt, bei deren gesetzlicher Festlegung die eine
Hälfte der Menschheit – die größte noch obendrein, denn das
sind wir Frauen doch nun einmal – nicht dasselbe, ja in ver-
schiedenem ein größeres Jnteresse habe als die männliche Hälfte,
daß es deshalb einfach grober Unfug ist, den Frauen das Recht
vorzuenthalten, bei der Wahl von „Gesetzmachern‟ auch ihre
Stimme abzugeben und selbst als Gesetzgeber gewählt zu wer-
den. Was machen denn heute die Majoritäten, die „edlen‟,
„hochgebildeten‟ Männer, die „Herren der Schöpfung‟ für famose
Gesetze? Sind sie jetzt nicht wieder allüberall im „allerchrist-
lichsten‟ Deutschland, dem „Musterland der sozialen Fürsorge‟
mit Feuereifer darauf aus, die mit unsäglichen Mühen und
größten Opfern aufgebauten Konsumentenorganisationen
durch eine „Umsatzsteuer‟ zu erdrosseln?

Eine ungeheure Fülle von Beweismaterial liegt für die Not-
wendigkeit vor, auch den Millionen des weiblichen Proletariats
das gleiche, allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht zu geben.
Von Tausenden nur ein Beispiel dafür:

Jm Eulengebirge, im Weberdorf Langenbielau, wo
schon vor mehr als sechzig Jahren die ausgemergelten Weber
zu Hungerrevolten gegen ihre unmenschlichen Ausbeuter ge-
trieben wurden – siehe Gerhart Hauptmanns „Weber‟ – ,
tat sich vor zirka zehn Jahren eine kleine Anzahl mutiger,
denkender Arbeiter zusammen. Nach dem Muster der drei-
zehn Flanellweber zu Rochdale in England, den „red-
lichen Pionieren‟, gründeten sie 1900 eine Konsumgenossen-
schaft. Dank unermüdlicher Agitation unter den eng zusammen-
wohnenden Leidensgefährten wuchs der Verein von Woche zu
Woche. Die Weber und ihre Frauen sahen bald ein, daß es
vernunftgemäß sei, ihre sauer verdienten Pfennige ins eigene
Geschäft zu tragen, statt so und so viel Zwischenhändler den
Unternehmensprofit einsäckeln zu lassen. Darob natürlich großes
Geschrei unter den „geschädigten‟ Krämern usw., die ihrem
Privatprofit nachweinten. Mit Hilfe der um ihre Stimmen
buhlenden „Mittelstandsretter‟ haben sie es fertig gebracht,
die dortige von Gott eingesetzte Regierung – ein Begriff zum
Heulen schön – dazu zu drängen, den aufblühenden Arbeiter-
konsumverein mit einer ganz ungeheuerlichen Umsatzsteuer zu
belasten. Der Ertrag davon wurde durch Beamte, die die Kom-
mune bezahlt, den Krämern, Bäckern, Schlächtern, sogar dem
Schnapswirt direkt ins Haus getragen! Diese Organisation
von Konsumenten, die kaum das nackte Leben fristen können,
muss heute infolge dieser wahnsinnigen Steuergesetzgebung die
ganz ungeheure Summe von 21 095 Mk. von ihren zusammen-
getragenen Spargroschen hergeben!

Vor einigen Jahren sprach ich in Langenbielau in einer
Agitationsversammlung des Konsumvereins. Der Vorsitzende
zeigte mir einen Mann im Saale, der ihn eines Tages auf-
gefordert hatte, in der Nacht mit ihm zusammen ein Schwein
wieder auszugraben, das an einer Seuche krepiert war und
schon 21 Stunden in der Erde eingegraben lag – im Hoch-
sommer bei 20 Grad Wärme! Der Mann wollte gern einmal
einen Sonntagsbraten für seine Familie haben! Er verdiente
mit seiner Frau zusammen 10 Mk. pro Woche, und die beiden
hatten vier Kinder. Was ist gegen das ersehnte krepierte Schwein
des halb verhungerten Webers das kleine „betuliche Hünd-
chen‟, das der alte Baumert in Gerhart Hauptmanns Weber-
drama schlachtet! Die Wirklichkeit ist unendlich viel grausamer
und scheußlicher, als eine Dichterphantasie sie zu schildern vermag.

[Spaltenumbruch]

Und da gibt es vom „Volk‟, das heißt von einem Teil des
Männervolks gewählte „Gesetzmacher‟, die den Konsumver-
einsumsatz solcher trostlos armer Arbeiter mit einer „Umsatzsteuer‟
zu belegen wagen! Diese Steuer schluckt einen großen Teil der
Ersparnisse auf, die durch den gemeinschaftlichen Wareneinkauf
der Bedarfsartikel erzielt werden, die der schandhafte Zoll- und
Steuerwucher so verteuert hat. Und für die Armen hat doch
jeder ersparte Pfennig Bedeutung.

Jch wende mich nun an die Leser und Leserinnen und be-
sonders an diejenigen unter ihnen, die heute schon aufgeklärt
und vernünftig genug sind, als Mitglieder eines Konsumvereins
die starke Macht ihrer Kaufkraft im proletarischen Klasseninteresse
„mobil‟ machen zu wollen. Jch frage Sie: Wäre es denkbar, wenn
Frauen, Proletarierfrauen in den Parlamenten säßen,
daß solche himmelschreiende Gesetze erlassen werden
könnten
?

Es gilt alles daranzusetzen, daß wir an der Hand von Tat-
sachen den Massen der uns heute noch verständnislos gegen-
überstehenden Frauen die richtige Antwort beibringen auf die
dumme Frage: „Was sollen die Weiber an der Gesetzgebungs-
maschine?‟ Die Schlauen, die jetzigen Machtgeber, wissen die
Antwort nur zu gut.

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-27T18:45:26Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-27T18:45:26Z)

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Zitationshilfe: Steinbach, H.: Die Dümmsten und die Schlauesten. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Ersten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 19. März 1911, S. 10, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinbach_schlauesten_1911/1>, abgerufen am 19.04.2024.