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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aes
nehmsten Hülfsmittel, zu einer glüklichen Fertig-
keit in jeder Kunst zu gelangen, angezeiget wer-
(*) S. Ge-
nie; Ein-
bildungs-
kraft;
Begeiste-
rung;
Geschmak;
Erfin-
dung u. a.
den. (*)

Jede schöne Kunst bringt Werke hervor, welche
in ihrer innerlichen Einrichtung und durch ihre nä-
her bestimmte Endzweke sich von andern unterschei-
den. Alle Arten derselben sind besonders beschrie-
ben. So ist in Ansehung der Dichtkunst die Na-
tur des epischen, des lyrischen, des lehrenden Ge-
dichts und anderer Arten; in Ansehung der Mah-
lerey das historische, das allegorische, das morali-
sche und andre Gemälde, besonders beschrieben, und
der Charakter jeder Art aus sichern Grundsätzen be-
stimmt worden.

Aus diesen Quellen sind denn endlich die Re-
geln zur Ausführung der Kunstwerke hergeleitet
worden; so wol die allgemeinen, zur Erfindung,
Anordnung
und einförmigen Bearbeitung des
Ganzen, als die besondern von der Wahl oder Er-
findung, von der Richtigkeit, der Uebereinstim-
mung und der bestimmten Würkung eines jeden ein-
zelnen Theiles.

Dieses ist der Jnhalt der ganzen Aesthetik, einer
Wissenschaft, welche dem Künstler in der Erfindung,
Anordnung und Ausführung seines Werks nützlich
zu Hülfe kommen, den Liebhaber in seiner Beur-
theilung leiten, und zugleich fähiger machen kann,
allen Nutzen, auf den die Werke der Kunst abzielen,
aus ihrem Genuß zu ziehen. Ein Nutzen, der
die Absichten der Weltweisheit und der Sittenlehre
vollendet.

Die Aesthetik gründet sich, so wie jede andre
Theorie, auf wenige und einfache Grundsätze. Man
muß aus der Psychologie wissen, wie die Empfin-
dungen entstehen, wie sie angenehm oder unange-
nehm werden. Zwey oder drey Sätze, welche die
allgemeine Auflösung dieser Fragen angiebt, sind
die Grundsätze der Aesthetik. Aus diesen wird auf
der einen Seite die Natur der ästhetischen Gegen-
stände bestimmt; auf der andern aber die Art oder
das Gesetz, nach welchem sie sich dem Geiste vor-
stellen müssen, oder die Lage des Gemüthes, um
ihre Würkung zu empfinden. Dieses alles kann
auf wenige Sätze gebracht werden, welche hinläng-
lich wären, jeden guten Kopf bey Verfertigung ei-
nes Werks der Kunst zu leiten.

Es ist mit dieser Wissenschaft, wie mit der Ver-
nunftlehre, deren Grundsätze| wenig und einfach
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Aes
sind. Aristoteles, der diese wenige Grundsätze
auf alle mögliche besondere Fälle angewendet, und
alle mögliche Abweichungen davon entwikelt hat, gab
der Philosophie eine Vernunftlehre, die vollständig,
aber wegen der großen Mannigfaltigkeit der Fälle,
worauf die Grundsätze angewendet wurden, mit ei-
ner erstaunlichen Menge Kunstwörter und beson-
derer Regeln angefüllt war. Der Schwarm der
nach ihm gekommenen Philosophen vom zweyten
Rang, übersah das Einfache darinn, und die Ter-
minologie vertrat die Stelle der Wissenschaft.

Soll die Aesthetik nicht in einen bloßen Wort-
kram ausarten, welches Schiksal die Logik und die
Moral unter den Händen der Scholastiker erfahren
haben; so muß man sehr sorgfältig bey jeder Gelegen-
heit die abgezogenen Begriffe auf die besondern Fäl-
le, wodurch sie veranlasset worden, und ohne welche
sie selbst keine Realität haben, zurüke führen. Je-
des System von allgemeinen Begriffen wird ohne
diese Vorsichtigkeit zu einem bloßen Luftgebäude, in
welchem seichte Köpfe bauen, niederreißen und viel
alberne Veranstaltungen machen, die den Verord-
nungen eines blödsinnigen Kopfes gleichen, der im
Tollhaus sich einbildet, ein Regent und Gesetzge-
ber zu seyn.

Aesthetisch.
(Schöne Künste überhaupt.)

Die Eigenschaft einer Sache, wodurch sie ein Ge-
genstand des Gefühls, und also geschikt wird, in
den Werken der schönen Künste gebraucht zu wer-
den. Die Ausdrüke: ein ästhetischer Gedanken,
ein ästhetisches Bild
u. d. gl. bezeichnen solche
Gedanken und Bilder, die bequem sind, in einem
Werk des Geschmaks Platz zu finden. Die Aus-
drüke: poetisch, mahlerisch, rednerisch und der-
gleichen, bezeichnen so viel besondere Arten des
Aesthetischen.

Zum ästhetischen Stoff gehört alles, was ver-
mögend ist, eine, die Aufmerksamkeit der Seele an
sich ziehende, Empfindung hervor zu bringen. (*)(*) S.
Kraft,
Empfin-
dung.

Solche Empfindungen können aber nicht ohne die
selbstthätige Mitwürksamkeit der Seele hervor ge-
bracht werden. (*) Also werden sie durch den(*) S. Ge-
schmak.

ästhetischen Stoff mehr veranlasset, als hervorge-
bracht. Der Künstler verliert seine Arbeit, wenn
die, für welche sie gemacht ist, die Fähigkeit nicht
haben, davon gerührt zu werden. Also hat zwar

der

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Aeſ
nehmſten Huͤlfsmittel, zu einer gluͤklichen Fertig-
keit in jeder Kunſt zu gelangen, angezeiget wer-
(*) S. Ge-
nie; Ein-
bildungs-
kraft;
Begeiſte-
rung;
Geſchmak;
Erfin-
dung u. a.
den. (*)

Jede ſchoͤne Kunſt bringt Werke hervor, welche
in ihrer innerlichen Einrichtung und durch ihre naͤ-
her beſtimmte Endzweke ſich von andern unterſchei-
den. Alle Arten derſelben ſind beſonders beſchrie-
ben. So iſt in Anſehung der Dichtkunſt die Na-
tur des epiſchen, des lyriſchen, des lehrenden Ge-
dichts und anderer Arten; in Anſehung der Mah-
lerey das hiſtoriſche, das allegoriſche, das morali-
ſche und andre Gemaͤlde, beſonders beſchrieben, und
der Charakter jeder Art aus ſichern Grundſaͤtzen be-
ſtimmt worden.

Aus dieſen Quellen ſind denn endlich die Re-
geln zur Ausfuͤhrung der Kunſtwerke hergeleitet
worden; ſo wol die allgemeinen, zur Erfindung,
Anordnung
und einfoͤrmigen Bearbeitung des
Ganzen, als die beſondern von der Wahl oder Er-
findung, von der Richtigkeit, der Uebereinſtim-
mung und der beſtimmten Wuͤrkung eines jeden ein-
zelnen Theiles.

Dieſes iſt der Jnhalt der ganzen Aeſthetik, einer
Wiſſenſchaft, welche dem Kuͤnſtler in der Erfindung,
Anordnung und Ausfuͤhrung ſeines Werks nuͤtzlich
zu Huͤlfe kommen, den Liebhaber in ſeiner Beur-
theilung leiten, und zugleich faͤhiger machen kann,
allen Nutzen, auf den die Werke der Kunſt abzielen,
aus ihrem Genuß zu ziehen. Ein Nutzen, der
die Abſichten der Weltweisheit und der Sittenlehre
vollendet.

Die Aeſthetik gruͤndet ſich, ſo wie jede andre
Theorie, auf wenige und einfache Grundſaͤtze. Man
muß aus der Pſychologie wiſſen, wie die Empfin-
dungen entſtehen, wie ſie angenehm oder unange-
nehm werden. Zwey oder drey Saͤtze, welche die
allgemeine Aufloͤſung dieſer Fragen angiebt, ſind
die Grundſaͤtze der Aeſthetik. Aus dieſen wird auf
der einen Seite die Natur der aͤſthetiſchen Gegen-
ſtaͤnde beſtimmt; auf der andern aber die Art oder
das Geſetz, nach welchem ſie ſich dem Geiſte vor-
ſtellen muͤſſen, oder die Lage des Gemuͤthes, um
ihre Wuͤrkung zu empfinden. Dieſes alles kann
auf wenige Saͤtze gebracht werden, welche hinlaͤng-
lich waͤren, jeden guten Kopf bey Verfertigung ei-
nes Werks der Kunſt zu leiten.

Es iſt mit dieſer Wiſſenſchaft, wie mit der Ver-
nunftlehre, deren Grundſaͤtze| wenig und einfach
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Aeſ
ſind. Ariſtoteles, der dieſe wenige Grundſaͤtze
auf alle moͤgliche beſondere Faͤlle angewendet, und
alle moͤgliche Abweichungen davon entwikelt hat, gab
der Philoſophie eine Vernunftlehre, die vollſtaͤndig,
aber wegen der großen Mannigfaltigkeit der Faͤlle,
worauf die Grundſaͤtze angewendet wurden, mit ei-
ner erſtaunlichen Menge Kunſtwoͤrter und beſon-
derer Regeln angefuͤllt war. Der Schwarm der
nach ihm gekommenen Philoſophen vom zweyten
Rang, uͤberſah das Einfache darinn, und die Ter-
minologie vertrat die Stelle der Wiſſenſchaft.

Soll die Aeſthetik nicht in einen bloßen Wort-
kram ausarten, welches Schikſal die Logik und die
Moral unter den Haͤnden der Scholaſtiker erfahren
haben; ſo muß man ſehr ſorgfaͤltig bey jeder Gelegen-
heit die abgezogenen Begriffe auf die beſondern Faͤl-
le, wodurch ſie veranlaſſet worden, und ohne welche
ſie ſelbſt keine Realitaͤt haben, zuruͤke fuͤhren. Je-
des Syſtem von allgemeinen Begriffen wird ohne
dieſe Vorſichtigkeit zu einem bloßen Luftgebaͤude, in
welchem ſeichte Koͤpfe bauen, niederreißen und viel
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nungen eines bloͤdſinnigen Kopfes gleichen, der im
Tollhaus ſich einbildet, ein Regent und Geſetzge-
ber zu ſeyn.

Aeſthetiſch.
(Schoͤne Kuͤnſte uͤberhaupt.)

Die Eigenſchaft einer Sache, wodurch ſie ein Ge-
genſtand des Gefuͤhls, und alſo geſchikt wird, in
den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte gebraucht zu wer-
den. Die Ausdruͤke: ein aͤſthetiſcher Gedanken,
ein aͤſthetiſches Bild
u. d. gl. bezeichnen ſolche
Gedanken und Bilder, die bequem ſind, in einem
Werk des Geſchmaks Platz zu finden. Die Aus-
druͤke: poetiſch, mahleriſch, redneriſch und der-
gleichen, bezeichnen ſo viel beſondere Arten des
Aeſthetiſchen.

Zum aͤſthetiſchen Stoff gehoͤrt alles, was ver-
moͤgend iſt, eine, die Aufmerkſamkeit der Seele an
ſich ziehende, Empfindung hervor zu bringen. (*)(*) S.
Kraft,
Empfin-
dung.

Solche Empfindungen koͤnnen aber nicht ohne die
ſelbſtthaͤtige Mitwuͤrkſamkeit der Seele hervor ge-
bracht werden. (*) Alſo werden ſie durch den(*) S. Ge-
ſchmak.

aͤſthetiſchen Stoff mehr veranlaſſet, als hervorge-
bracht. Der Kuͤnſtler verliert ſeine Arbeit, wenn
die, fuͤr welche ſie gemacht iſt, die Faͤhigkeit nicht
haben, davon geruͤhrt zu werden. Alſo hat zwar

der
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[22/0034] Aeſ Aeſ nehmſten Huͤlfsmittel, zu einer gluͤklichen Fertig- keit in jeder Kunſt zu gelangen, angezeiget wer- den. (*) (*) S. Ge- nie; Ein- bildungs- kraft; Begeiſte- rung; Geſchmak; Erfin- dung u. a. Jede ſchoͤne Kunſt bringt Werke hervor, welche in ihrer innerlichen Einrichtung und durch ihre naͤ- her beſtimmte Endzweke ſich von andern unterſchei- den. Alle Arten derſelben ſind beſonders beſchrie- ben. So iſt in Anſehung der Dichtkunſt die Na- tur des epiſchen, des lyriſchen, des lehrenden Ge- dichts und anderer Arten; in Anſehung der Mah- lerey das hiſtoriſche, das allegoriſche, das morali- ſche und andre Gemaͤlde, beſonders beſchrieben, und der Charakter jeder Art aus ſichern Grundſaͤtzen be- ſtimmt worden. Aus dieſen Quellen ſind denn endlich die Re- geln zur Ausfuͤhrung der Kunſtwerke hergeleitet worden; ſo wol die allgemeinen, zur Erfindung, Anordnung und einfoͤrmigen Bearbeitung des Ganzen, als die beſondern von der Wahl oder Er- findung, von der Richtigkeit, der Uebereinſtim- mung und der beſtimmten Wuͤrkung eines jeden ein- zelnen Theiles. Dieſes iſt der Jnhalt der ganzen Aeſthetik, einer Wiſſenſchaft, welche dem Kuͤnſtler in der Erfindung, Anordnung und Ausfuͤhrung ſeines Werks nuͤtzlich zu Huͤlfe kommen, den Liebhaber in ſeiner Beur- theilung leiten, und zugleich faͤhiger machen kann, allen Nutzen, auf den die Werke der Kunſt abzielen, aus ihrem Genuß zu ziehen. Ein Nutzen, der die Abſichten der Weltweisheit und der Sittenlehre vollendet. Die Aeſthetik gruͤndet ſich, ſo wie jede andre Theorie, auf wenige und einfache Grundſaͤtze. Man muß aus der Pſychologie wiſſen, wie die Empfin- dungen entſtehen, wie ſie angenehm oder unange- nehm werden. Zwey oder drey Saͤtze, welche die allgemeine Aufloͤſung dieſer Fragen angiebt, ſind die Grundſaͤtze der Aeſthetik. Aus dieſen wird auf der einen Seite die Natur der aͤſthetiſchen Gegen- ſtaͤnde beſtimmt; auf der andern aber die Art oder das Geſetz, nach welchem ſie ſich dem Geiſte vor- ſtellen muͤſſen, oder die Lage des Gemuͤthes, um ihre Wuͤrkung zu empfinden. Dieſes alles kann auf wenige Saͤtze gebracht werden, welche hinlaͤng- lich waͤren, jeden guten Kopf bey Verfertigung ei- nes Werks der Kunſt zu leiten. Es iſt mit dieſer Wiſſenſchaft, wie mit der Ver- nunftlehre, deren Grundſaͤtze| wenig und einfach ſind. Ariſtoteles, der dieſe wenige Grundſaͤtze auf alle moͤgliche beſondere Faͤlle angewendet, und alle moͤgliche Abweichungen davon entwikelt hat, gab der Philoſophie eine Vernunftlehre, die vollſtaͤndig, aber wegen der großen Mannigfaltigkeit der Faͤlle, worauf die Grundſaͤtze angewendet wurden, mit ei- ner erſtaunlichen Menge Kunſtwoͤrter und beſon- derer Regeln angefuͤllt war. Der Schwarm der nach ihm gekommenen Philoſophen vom zweyten Rang, uͤberſah das Einfache darinn, und die Ter- minologie vertrat die Stelle der Wiſſenſchaft. Soll die Aeſthetik nicht in einen bloßen Wort- kram ausarten, welches Schikſal die Logik und die Moral unter den Haͤnden der Scholaſtiker erfahren haben; ſo muß man ſehr ſorgfaͤltig bey jeder Gelegen- heit die abgezogenen Begriffe auf die beſondern Faͤl- le, wodurch ſie veranlaſſet worden, und ohne welche ſie ſelbſt keine Realitaͤt haben, zuruͤke fuͤhren. Je- des Syſtem von allgemeinen Begriffen wird ohne dieſe Vorſichtigkeit zu einem bloßen Luftgebaͤude, in welchem ſeichte Koͤpfe bauen, niederreißen und viel alberne Veranſtaltungen machen, die den Verord- nungen eines bloͤdſinnigen Kopfes gleichen, der im Tollhaus ſich einbildet, ein Regent und Geſetzge- ber zu ſeyn. Aeſthetiſch. (Schoͤne Kuͤnſte uͤberhaupt.) Die Eigenſchaft einer Sache, wodurch ſie ein Ge- genſtand des Gefuͤhls, und alſo geſchikt wird, in den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte gebraucht zu wer- den. Die Ausdruͤke: ein aͤſthetiſcher Gedanken, ein aͤſthetiſches Bild u. d. gl. bezeichnen ſolche Gedanken und Bilder, die bequem ſind, in einem Werk des Geſchmaks Platz zu finden. Die Aus- druͤke: poetiſch, mahleriſch, redneriſch und der- gleichen, bezeichnen ſo viel beſondere Arten des Aeſthetiſchen. Zum aͤſthetiſchen Stoff gehoͤrt alles, was ver- moͤgend iſt, eine, die Aufmerkſamkeit der Seele an ſich ziehende, Empfindung hervor zu bringen. (*) Solche Empfindungen koͤnnen aber nicht ohne die ſelbſtthaͤtige Mitwuͤrkſamkeit der Seele hervor ge- bracht werden. (*) Alſo werden ſie durch den aͤſthetiſchen Stoff mehr veranlaſſet, als hervorge- bracht. Der Kuͤnſtler verliert ſeine Arbeit, wenn die, fuͤr welche ſie gemacht iſt, die Faͤhigkeit nicht haben, davon geruͤhrt zu werden. Alſo hat zwar der (*) S. Kraft, Empfin- dung. (*) S. Ge- ſchmak.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/34>, abgerufen am 28.03.2024.