Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Verbrechen war. Solche Gegenstände sind es eben,
wobey es dem Menschen am fühlbarsten wird, daß Ue-
berlegen, Denken und Wissen für sich selbst eine Glück-
feligkeit sey, und daß es ein inneres thatvolles Leben
gebe, wozu die Kräfte in der Einsicht des Verstandes
liegen. Jn den alten Freystaaten, wie in einigen neu-
ern, war es das Denken, Sprechen und Schreiben über
die Gesetze, und über die Staatsverfassung und die dar-
aus entspringende lebhafte politische Geschäfftigkeit, was
bey dem größten Theil der Bürger ihre vorzügliche Ent-
wickelung am Verstande und Geist hervorbrachte.
Aber im Ganzen ist keines, was zu dieser Absicht so
wirksam seiner Natur nach ist, und mit so großem Er-
folg gebraucht werden kann, als die Religion. Sie ist
für jeden Stand und für jedwede Art von Umständen.
Sie greift den Menschen von allen Seiten an, und wir-
ket am stärksten auf seine edelsten Kräfte.

6.

An Mitteln und Ursachen fehlt es also in der Welt
nicht, wodurch die Menschheit vervollkommnet werden
könnte, wenn diese in Thätigkeit gesetzt und jene auf die
gehörige Art gebraucht würden. Was wäre nicht wohl
möglich? Kann es nicht allenthalben dahin kommen,
wohin der wohlthätige Heinrich der Vierte in seinem
Frankreich es zu bringen suchte, daß jeder Bauer am
Sonntage sein Huhn im Topf habe? Sollte sichs nicht
machen lassen, daß auch der niedrigste Mensch mit neun
bis zehn Stunden Arbeit an jedem Tage so viel ver-
diene, als er braucht, um sich und die Seinigen ohne
Sorgen zu ernähren? Wenn dieß wäre, so blieben ihm
noch sieben Stunden zu seinem Schlaf und sieben zu
seiner Erholung übrig, in denen Witz und Verstand be-
schäfftiget und das Herz in edlen Trieben erweitert wer-
den könnte. Läßt sich nicht etwas in dieser Hinsicht von
der Zukunft hoffen? Sollten nicht die edlen Bemühun-

gen,

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Verbrechen war. Solche Gegenſtaͤnde ſind es eben,
wobey es dem Menſchen am fuͤhlbarſten wird, daß Ue-
berlegen, Denken und Wiſſen fuͤr ſich ſelbſt eine Gluͤck-
feligkeit ſey, und daß es ein inneres thatvolles Leben
gebe, wozu die Kraͤfte in der Einſicht des Verſtandes
liegen. Jn den alten Freyſtaaten, wie in einigen neu-
ern, war es das Denken, Sprechen und Schreiben uͤber
die Geſetze, und uͤber die Staatsverfaſſung und die dar-
aus entſpringende lebhafte politiſche Geſchaͤfftigkeit, was
bey dem groͤßten Theil der Buͤrger ihre vorzuͤgliche Ent-
wickelung am Verſtande und Geiſt hervorbrachte.
Aber im Ganzen iſt keines, was zu dieſer Abſicht ſo
wirkſam ſeiner Natur nach iſt, und mit ſo großem Er-
folg gebraucht werden kann, als die Religion. Sie iſt
fuͤr jeden Stand und fuͤr jedwede Art von Umſtaͤnden.
Sie greift den Menſchen von allen Seiten an, und wir-
ket am ſtaͤrkſten auf ſeine edelſten Kraͤfte.

6.

An Mitteln und Urſachen fehlt es alſo in der Welt
nicht, wodurch die Menſchheit vervollkommnet werden
koͤnnte, wenn dieſe in Thaͤtigkeit geſetzt und jene auf die
gehoͤrige Art gebraucht wuͤrden. Was waͤre nicht wohl
moͤglich? Kann es nicht allenthalben dahin kommen,
wohin der wohlthaͤtige Heinrich der Vierte in ſeinem
Frankreich es zu bringen ſuchte, daß jeder Bauer am
Sonntage ſein Huhn im Topf habe? Sollte ſichs nicht
machen laſſen, daß auch der niedrigſte Menſch mit neun
bis zehn Stunden Arbeit an jedem Tage ſo viel ver-
diene, als er braucht, um ſich und die Seinigen ohne
Sorgen zu ernaͤhren? Wenn dieß waͤre, ſo blieben ihm
noch ſieben Stunden zu ſeinem Schlaf und ſieben zu
ſeiner Erholung uͤbrig, in denen Witz und Verſtand be-
ſchaͤfftiget und das Herz in edlen Trieben erweitert wer-
den koͤnnte. Laͤßt ſich nicht etwas in dieſer Hinſicht von
der Zukunft hoffen? Sollten nicht die edlen Bemuͤhun-

gen,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0810" n="780"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
Verbrechen war. Solche Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;ind es eben,<lb/>
wobey es dem Men&#x017F;chen am fu&#x0364;hlbar&#x017F;ten wird, daß Ue-<lb/>
berlegen, Denken und Wi&#x017F;&#x017F;en fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t eine Glu&#x0364;ck-<lb/>
feligkeit &#x017F;ey, und daß es ein inneres thatvolles Leben<lb/>
gebe, wozu die Kra&#x0364;fte in der Ein&#x017F;icht des Ver&#x017F;tandes<lb/>
liegen. Jn den alten Frey&#x017F;taaten, wie in einigen neu-<lb/>
ern, war es das Denken, Sprechen und Schreiben u&#x0364;ber<lb/>
die Ge&#x017F;etze, und u&#x0364;ber die Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ung und die dar-<lb/>
aus ent&#x017F;pringende lebhafte politi&#x017F;che Ge&#x017F;cha&#x0364;fftigkeit, was<lb/>
bey dem gro&#x0364;ßten Theil der Bu&#x0364;rger ihre vorzu&#x0364;gliche Ent-<lb/>
wickelung am Ver&#x017F;tande und Gei&#x017F;t hervorbrachte.<lb/>
Aber im Ganzen i&#x017F;t keines, was zu die&#x017F;er Ab&#x017F;icht &#x017F;o<lb/>
wirk&#x017F;am &#x017F;einer Natur nach i&#x017F;t, und mit &#x017F;o großem Er-<lb/>
folg gebraucht werden kann, als die Religion. Sie i&#x017F;t<lb/>
fu&#x0364;r jeden Stand und fu&#x0364;r jedwede Art von Um&#x017F;ta&#x0364;nden.<lb/>
Sie greift den Men&#x017F;chen von allen Seiten an, und wir-<lb/>
ket am &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten auf &#x017F;eine edel&#x017F;ten Kra&#x0364;fte.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>6.</head><lb/>
            <p>An Mitteln und Ur&#x017F;achen fehlt es al&#x017F;o in der Welt<lb/>
nicht, wodurch die Men&#x017F;chheit vervollkommnet werden<lb/>
ko&#x0364;nnte, wenn die&#x017F;e in Tha&#x0364;tigkeit ge&#x017F;etzt und jene auf die<lb/>
geho&#x0364;rige Art gebraucht wu&#x0364;rden. Was wa&#x0364;re nicht wohl<lb/>
mo&#x0364;glich? Kann es nicht allenthalben dahin kommen,<lb/>
wohin der wohltha&#x0364;tige Heinrich der Vierte in &#x017F;einem<lb/>
Frankreich es zu bringen &#x017F;uchte, daß jeder Bauer am<lb/>
Sonntage &#x017F;ein Huhn im Topf habe? Sollte &#x017F;ichs nicht<lb/>
machen la&#x017F;&#x017F;en, daß auch der niedrig&#x017F;te Men&#x017F;ch mit neun<lb/>
bis zehn Stunden Arbeit an jedem Tage &#x017F;o viel ver-<lb/>
diene, als er braucht, um &#x017F;ich und die Seinigen ohne<lb/>
Sorgen zu erna&#x0364;hren? Wenn dieß wa&#x0364;re, &#x017F;o blieben ihm<lb/>
noch &#x017F;ieben Stunden zu &#x017F;einem Schlaf und &#x017F;ieben zu<lb/>
&#x017F;einer Erholung u&#x0364;brig, in denen Witz und Ver&#x017F;tand be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;fftiget und das Herz in edlen Trieben erweitert wer-<lb/>
den ko&#x0364;nnte. La&#x0364;ßt &#x017F;ich nicht etwas in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht von<lb/>
der Zukunft hoffen? Sollten nicht die edlen Bemu&#x0364;hun-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[780/0810] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Verbrechen war. Solche Gegenſtaͤnde ſind es eben, wobey es dem Menſchen am fuͤhlbarſten wird, daß Ue- berlegen, Denken und Wiſſen fuͤr ſich ſelbſt eine Gluͤck- feligkeit ſey, und daß es ein inneres thatvolles Leben gebe, wozu die Kraͤfte in der Einſicht des Verſtandes liegen. Jn den alten Freyſtaaten, wie in einigen neu- ern, war es das Denken, Sprechen und Schreiben uͤber die Geſetze, und uͤber die Staatsverfaſſung und die dar- aus entſpringende lebhafte politiſche Geſchaͤfftigkeit, was bey dem groͤßten Theil der Buͤrger ihre vorzuͤgliche Ent- wickelung am Verſtande und Geiſt hervorbrachte. Aber im Ganzen iſt keines, was zu dieſer Abſicht ſo wirkſam ſeiner Natur nach iſt, und mit ſo großem Er- folg gebraucht werden kann, als die Religion. Sie iſt fuͤr jeden Stand und fuͤr jedwede Art von Umſtaͤnden. Sie greift den Menſchen von allen Seiten an, und wir- ket am ſtaͤrkſten auf ſeine edelſten Kraͤfte. 6. An Mitteln und Urſachen fehlt es alſo in der Welt nicht, wodurch die Menſchheit vervollkommnet werden koͤnnte, wenn dieſe in Thaͤtigkeit geſetzt und jene auf die gehoͤrige Art gebraucht wuͤrden. Was waͤre nicht wohl moͤglich? Kann es nicht allenthalben dahin kommen, wohin der wohlthaͤtige Heinrich der Vierte in ſeinem Frankreich es zu bringen ſuchte, daß jeder Bauer am Sonntage ſein Huhn im Topf habe? Sollte ſichs nicht machen laſſen, daß auch der niedrigſte Menſch mit neun bis zehn Stunden Arbeit an jedem Tage ſo viel ver- diene, als er braucht, um ſich und die Seinigen ohne Sorgen zu ernaͤhren? Wenn dieß waͤre, ſo blieben ihm noch ſieben Stunden zu ſeinem Schlaf und ſieben zu ſeiner Erholung uͤbrig, in denen Witz und Verſtand be- ſchaͤfftiget und das Herz in edlen Trieben erweitert wer- den koͤnnte. Laͤßt ſich nicht etwas in dieſer Hinſicht von der Zukunft hoffen? Sollten nicht die edlen Bemuͤhun- gen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/810
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 780. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/810>, abgerufen am 18.04.2024.