Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
6.
William Lovell an Amalie Wilmont.


O Amalie, dürft' ich mit diesem Briefe zu-
gleich nach meinem Vaterlande eilen, in Ihre
Arme fliegen, o könnt' ich Tage zurückzaubern
und alle Seeligkeiten von der Vergangenheit
wieder fodern! -- Ich sitze nun hier und wün-
sche und sinne, und fühle so innig die Schmer-
zen der Trennung, -- o wie dank' ich dir, glück-
licher Genius, der du zuerst das Mittel erfan-
dest, Gedanken und Gefühle einer todten Masse
mitzutheilen und so bis in ferne Länder zu spre-
chen, -- o Amalie! gewiß war es ein Lieben-
der, ein Geliebter, der zuerst diese künstlichen
Zeichen zusammensetzte und so die Trennung hin-
terging. Aber doch, was kann ich Ihnen sa-
gen? daß nur Sie mein Gedanke im Wachen,
meine Traumgestalt im Schlafe sind? Daß sich
meine Phantasie oft so sehr täuscht, daß ich
Sie in fremden Gestalten wahrzunehmen glaube?
daß ich zittre, wenn auch das fremdeste Wesen
von ohngefähr den Nahmen: "Amalie",

6.
William Lovell an Amalie Wilmont.


O Amalie, duͤrft’ ich mit dieſem Briefe zu-
gleich nach meinem Vaterlande eilen, in Ihre
Arme fliegen, o koͤnnt’ ich Tage zuruͤckzaubern
und alle Seeligkeiten von der Vergangenheit
wieder fodern! — Ich ſitze nun hier und wuͤn-
ſche und ſinne, und fuͤhle ſo innig die Schmer-
zen der Trennung, — o wie dank’ ich dir, gluͤck-
licher Genius, der du zuerſt das Mittel erfan-
deſt, Gedanken und Gefuͤhle einer todten Maſſe
mitzutheilen und ſo bis in ferne Laͤnder zu ſpre-
chen, — o Amalie! gewiß war es ein Lieben-
der, ein Geliebter, der zuerſt dieſe kuͤnſtlichen
Zeichen zuſammenſetzte und ſo die Trennung hin-
terging. Aber doch, was kann ich Ihnen ſa-
gen? daß nur Sie mein Gedanke im Wachen,
meine Traumgeſtalt im Schlafe ſind? Daß ſich
meine Phantaſie oft ſo ſehr taͤuſcht, daß ich
Sie in fremden Geſtalten wahrzunehmen glaube?
daß ich zittre, wenn auch das fremdeſte Weſen
von ohngefaͤhr den Nahmen: »Amalie»,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0115" n="107[105]"/>
        <div n="2">
          <head>6.<lb/>
William Lovell an Amalie Wilmont.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Paris.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">O</hi> Amalie, du&#x0364;rft&#x2019; ich mit die&#x017F;em Briefe zu-<lb/>
gleich nach meinem Vaterlande eilen, in Ihre<lb/>
Arme fliegen, o ko&#x0364;nnt&#x2019; ich Tage zuru&#x0364;ckzaubern<lb/>
und alle Seeligkeiten von der Vergangenheit<lb/>
wieder fodern! &#x2014; Ich &#x017F;itze nun hier und wu&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;che und &#x017F;inne, und fu&#x0364;hle &#x017F;o innig die Schmer-<lb/>
zen der Trennung, &#x2014; o wie dank&#x2019; ich dir, glu&#x0364;ck-<lb/>
licher Genius, der du zuer&#x017F;t das Mittel erfan-<lb/>
de&#x017F;t, Gedanken und Gefu&#x0364;hle einer todten Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
mitzutheilen und &#x017F;o bis in ferne La&#x0364;nder zu &#x017F;pre-<lb/>
chen, &#x2014; o Amalie! gewiß war es ein Lieben-<lb/>
der, ein Geliebter, der zuer&#x017F;t die&#x017F;e ku&#x0364;n&#x017F;tlichen<lb/>
Zeichen zu&#x017F;ammen&#x017F;etzte und &#x017F;o die Trennung hin-<lb/>
terging. Aber doch, was kann ich Ihnen &#x017F;a-<lb/>
gen? daß nur Sie mein Gedanke im Wachen,<lb/>
meine Traumge&#x017F;talt im Schlafe &#x017F;ind? Daß &#x017F;ich<lb/>
meine Phanta&#x017F;ie oft &#x017F;o &#x017F;ehr ta&#x0364;u&#x017F;cht, daß ich<lb/>
Sie in fremden Ge&#x017F;talten wahrzunehmen glaube?<lb/>
daß ich zittre, wenn auch das fremde&#x017F;te We&#x017F;en<lb/>
von ohngefa&#x0364;hr den Nahmen: »<hi rendition="#g">Amalie</hi>»,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107[105]/0115] 6. William Lovell an Amalie Wilmont. Paris. O Amalie, duͤrft’ ich mit dieſem Briefe zu- gleich nach meinem Vaterlande eilen, in Ihre Arme fliegen, o koͤnnt’ ich Tage zuruͤckzaubern und alle Seeligkeiten von der Vergangenheit wieder fodern! — Ich ſitze nun hier und wuͤn- ſche und ſinne, und fuͤhle ſo innig die Schmer- zen der Trennung, — o wie dank’ ich dir, gluͤck- licher Genius, der du zuerſt das Mittel erfan- deſt, Gedanken und Gefuͤhle einer todten Maſſe mitzutheilen und ſo bis in ferne Laͤnder zu ſpre- chen, — o Amalie! gewiß war es ein Lieben- der, ein Geliebter, der zuerſt dieſe kuͤnſtlichen Zeichen zuſammenſetzte und ſo die Trennung hin- terging. Aber doch, was kann ich Ihnen ſa- gen? daß nur Sie mein Gedanke im Wachen, meine Traumgeſtalt im Schlafe ſind? Daß ſich meine Phantaſie oft ſo ſehr taͤuſcht, daß ich Sie in fremden Geſtalten wahrzunehmen glaube? daß ich zittre, wenn auch das fremdeſte Weſen von ohngefaͤhr den Nahmen: »Amalie»,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/115
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 107[105]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/115>, abgerufen am 24.04.2024.