Lieber Eduard, ich bin heut noch zu voll von den mannichfaltigen Eindrücken, die alles um- her auf mich macht, um Dir einen langen Brief schreiben zu können. Die Asche eines Heldenalters liegt unter meinen Füßen, mit ernster Größe sprechen mich die erhabenen Rui- nen der Vorzeit an, die Kunstwerke der neuern Welt erzwingen meine Anbetung. Ich lebe hier wie in einem unendlich großen Tempel, der hei- lige Schauer auf mich herabgießt; bei jedem Schritte betret' ich eine Stelle, wo einst ein verehrungswürdiger Römer ging, oder wo eine große Handlung vorfiel. Ein Drang zu Thaten weht mich aus jeder Bildsäule an, begeisternde Schauder wohnen in den Trümmern aus der großen Heroenzeit, in der Abenddämmerung denk' ich oft auf den einsamen Plätzen hinter einer eingefallenen Mauer den Geist eines alten Römers zu sehn und fahre dann vor meinem ei- genen Gedanken zurück.
9. William Lovell an Eduard Burton.
Rom.
Lieber Eduard, ich bin heut noch zu voll von den mannichfaltigen Eindruͤcken, die alles um- her auf mich macht, um Dir einen langen Brief ſchreiben zu koͤnnen. Die Aſche eines Heldenalters liegt unter meinen Fuͤßen, mit ernſter Groͤße ſprechen mich die erhabenen Rui- nen der Vorzeit an, die Kunſtwerke der neuern Welt erzwingen meine Anbetung. Ich lebe hier wie in einem unendlich großen Tempel, der hei- lige Schauer auf mich herabgießt; bei jedem Schritte betret’ ich eine Stelle, wo einſt ein verehrungswuͤrdiger Roͤmer ging, oder wo eine große Handlung vorfiel. Ein Drang zu Thaten weht mich aus jeder Bildſaͤule an, begeiſternde Schauder wohnen in den Truͤmmern aus der großen Heroenzeit, in der Abenddaͤmmerung denk’ ich oft auf den einſamen Plaͤtzen hinter einer eingefallenen Mauer den Geiſt eines alten Roͤmers zu ſehn und fahre dann vor meinem ei- genen Gedanken zuruͤck.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0250"n="242[240]"/><divn="2"><head>9.<lb/>
William Lovell an Eduard Burton.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Rom.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#in">L</hi>ieber Eduard, ich bin heut noch zu voll von<lb/>
den mannichfaltigen Eindruͤcken, die alles um-<lb/>
her auf mich macht, um Dir einen langen<lb/>
Brief ſchreiben zu koͤnnen. Die Aſche eines<lb/>
Heldenalters liegt unter meinen Fuͤßen, mit<lb/>
ernſter Groͤße ſprechen mich die erhabenen Rui-<lb/>
nen der Vorzeit an, die Kunſtwerke der neuern<lb/>
Welt <choice><sic>erzwingeu</sic><corr>erzwingen</corr></choice> meine Anbetung. Ich lebe hier<lb/>
wie in einem unendlich großen Tempel, der hei-<lb/>
lige Schauer auf mich herabgießt; bei jedem<lb/>
Schritte betret’ ich eine Stelle, wo einſt ein<lb/>
verehrungswuͤrdiger Roͤmer ging, oder wo eine<lb/>
große Handlung vorfiel. Ein Drang zu Thaten<lb/>
weht mich aus jeder Bildſaͤule an, begeiſternde<lb/>
Schauder wohnen in den Truͤmmern aus der<lb/>
großen Heroenzeit, in der Abenddaͤmmerung<lb/>
denk’ ich oft auf den einſamen Plaͤtzen hinter<lb/>
einer eingefallenen Mauer den Geiſt eines alten<lb/>
Roͤmers zu ſehn und fahre dann vor meinem ei-<lb/>
genen Gedanken zuruͤck.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[242[240]/0250]
9.
William Lovell an Eduard Burton.
Rom.
Lieber Eduard, ich bin heut noch zu voll von
den mannichfaltigen Eindruͤcken, die alles um-
her auf mich macht, um Dir einen langen
Brief ſchreiben zu koͤnnen. Die Aſche eines
Heldenalters liegt unter meinen Fuͤßen, mit
ernſter Groͤße ſprechen mich die erhabenen Rui-
nen der Vorzeit an, die Kunſtwerke der neuern
Welt erzwingen meine Anbetung. Ich lebe hier
wie in einem unendlich großen Tempel, der hei-
lige Schauer auf mich herabgießt; bei jedem
Schritte betret’ ich eine Stelle, wo einſt ein
verehrungswuͤrdiger Roͤmer ging, oder wo eine
große Handlung vorfiel. Ein Drang zu Thaten
weht mich aus jeder Bildſaͤule an, begeiſternde
Schauder wohnen in den Truͤmmern aus der
großen Heroenzeit, in der Abenddaͤmmerung
denk’ ich oft auf den einſamen Plaͤtzen hinter
einer eingefallenen Mauer den Geiſt eines alten
Roͤmers zu ſehn und fahre dann vor meinem ei-
genen Gedanken zuruͤck.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 242[240]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/250>, abgerufen am 24.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.