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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
ist hie und da wohl ein Zug oder eine Scene
gelungen, die für das Ganze dann gut stehn
müssen; sondern von jenem kleinlichen Zwitter-
schauspiele spreche ich, von jenen Familiengemähl-
den und Hofrathsstücken, von den Hunger- und
Elends-Festen, von der Noth und Angst, die
bis in den fünften Akt die Seelen zerdrückt, und
ein edles Mädchen fast dahin bringt, einen Lump
zu heirathen und das brillanteste Herz sitzen zu
lassen; oder wo ein hochstrebender Sohn den
Vater bestiehlt und zur Verzweiflung bringt, oder
Brüder mißhellig sind, Frauen den Schweiß des
Gatten verschwenden, und so weiter: denn wer
vermöchte die unendliche Variation des großen
Einerlei auszusprechen? Bei diesen Jammer-Luft-
spielen, kann ich nicht läugnen, bin ich ein zu
nervenschwacher Zuschauer, um nicht auf das Aeu-
ßerste verstimmt und im Innern unglücklich zu
werden. Denn diese Dichter haben nicht daran
genug, dergleichen Elend nach der Wahrheit zu
schildern, wodurch ihre Compositionen bloß un-
künstlich würden, sondern sie ziehn mit einem
Handgriff, den sie sich alle zu eigen gemacht ha-
ben, das Edelste und Höchste der Menschheit,
Kindes- und Elternliebe, Freundschaft, die theu-
ersten Verhältnisse, die menschlichsten, natürlich-
sten und herzlichsten Rührungen in ihre Carika-
turen hinein, und schlagen die Töne an, die im-
mer anklingen müssen, wenn ein gutmüthiges Pu-
blikum kein heitres Kunstwerk, sondern nur eine

pre-

Erſte Abtheilung.
iſt hie und da wohl ein Zug oder eine Scene
gelungen, die fuͤr das Ganze dann gut ſtehn
muͤſſen; ſondern von jenem kleinlichen Zwitter-
ſchauſpiele ſpreche ich, von jenen Familiengemaͤhl-
den und Hofrathsſtuͤcken, von den Hunger- und
Elends-Feſten, von der Noth und Angſt, die
bis in den fuͤnften Akt die Seelen zerdruͤckt, und
ein edles Maͤdchen faſt dahin bringt, einen Lump
zu heirathen und das brillanteſte Herz ſitzen zu
laſſen; oder wo ein hochſtrebender Sohn den
Vater beſtiehlt und zur Verzweiflung bringt, oder
Bruͤder mißhellig ſind, Frauen den Schweiß des
Gatten verſchwenden, und ſo weiter: denn wer
vermoͤchte die unendliche Variation des großen
Einerlei auszuſprechen? Bei dieſen Jammer-Luft-
ſpielen, kann ich nicht laͤugnen, bin ich ein zu
nervenſchwacher Zuſchauer, um nicht auf das Aeu-
ßerſte verſtimmt und im Innern ungluͤcklich zu
werden. Denn dieſe Dichter haben nicht daran
genug, dergleichen Elend nach der Wahrheit zu
ſchildern, wodurch ihre Compoſitionen bloß un-
kuͤnſtlich wuͤrden, ſondern ſie ziehn mit einem
Handgriff, den ſie ſich alle zu eigen gemacht ha-
ben, das Edelſte und Hoͤchſte der Menſchheit,
Kindes- und Elternliebe, Freundſchaft, die theu-
erſten Verhaͤltniſſe, die menſchlichſten, natuͤrlich-
ſten und herzlichſten Ruͤhrungen in ihre Carika-
turen hinein, und ſchlagen die Toͤne an, die im-
mer anklingen muͤſſen, wenn ein gutmuͤthiges Pu-
blikum kein heitres Kunſtwerk, ſondern nur eine

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[320/0331] Erſte Abtheilung. iſt hie und da wohl ein Zug oder eine Scene gelungen, die fuͤr das Ganze dann gut ſtehn muͤſſen; ſondern von jenem kleinlichen Zwitter- ſchauſpiele ſpreche ich, von jenen Familiengemaͤhl- den und Hofrathsſtuͤcken, von den Hunger- und Elends-Feſten, von der Noth und Angſt, die bis in den fuͤnften Akt die Seelen zerdruͤckt, und ein edles Maͤdchen faſt dahin bringt, einen Lump zu heirathen und das brillanteſte Herz ſitzen zu laſſen; oder wo ein hochſtrebender Sohn den Vater beſtiehlt und zur Verzweiflung bringt, oder Bruͤder mißhellig ſind, Frauen den Schweiß des Gatten verſchwenden, und ſo weiter: denn wer vermoͤchte die unendliche Variation des großen Einerlei auszuſprechen? Bei dieſen Jammer-Luft- ſpielen, kann ich nicht laͤugnen, bin ich ein zu nervenſchwacher Zuſchauer, um nicht auf das Aeu- ßerſte verſtimmt und im Innern ungluͤcklich zu werden. Denn dieſe Dichter haben nicht daran genug, dergleichen Elend nach der Wahrheit zu ſchildern, wodurch ihre Compoſitionen bloß un- kuͤnſtlich wuͤrden, ſondern ſie ziehn mit einem Handgriff, den ſie ſich alle zu eigen gemacht ha- ben, das Edelſte und Hoͤchſte der Menſchheit, Kindes- und Elternliebe, Freundſchaft, die theu- erſten Verhaͤltniſſe, die menſchlichſten, natuͤrlich- ſten und herzlichſten Ruͤhrungen in ihre Carika- turen hinein, und ſchlagen die Toͤne an, die im- mer anklingen muͤſſen, wenn ein gutmuͤthiges Pu- blikum kein heitres Kunſtwerk, ſondern nur eine pre-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/331>, abgerufen am 28.03.2024.