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Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798.

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"Jetzt, lieber Sebastian, ist mir sehr
wohl, und Du wirst Dich darüber freuen.
Meine Seele ergreift das Ferne und Nahe,
die Gegenwart und Vergangenheit mit glei¬
cher Liebe, und alle Empfindungen trage
ich sorglich zu meiner Kunst hinüber. War¬
um quäle ich mich ab, da ich mich doch am
Ende überzeugen muß, daß jeder nur das
leisten wird, was er leisten kann? Wie
kurz ist das Leben, und warum wollen wir
es mit unsern Beängstigungen noch mehr
verkürzen? Jeder Künstlergeist muß sich
ohne Druck und äußern Zwang, wie ein
edler Baum mit seinen mancherlei Zweigen
und Ästen ausbreiten; er strebt von selbst
durch eigne Kraft nach den Wolken zu, und
ohne seine Mitwirkung erzeugt sich die er¬
habene Pflanze, sey es Eiche, Buche oder
Cypresse, Myrthe oder Rosengesträuch, je
nachdem der Keim beschaffen war, aus dem

»Jetzt, lieber Sebaſtian, iſt mir ſehr
wohl, und Du wirſt Dich darüber freuen.
Meine Seele ergreift das Ferne und Nahe,
die Gegenwart und Vergangenheit mit glei¬
cher Liebe, und alle Empfindungen trage
ich ſorglich zu meiner Kunſt hinüber. War¬
um quäle ich mich ab, da ich mich doch am
Ende überzeugen muß, daß jeder nur das
leiſten wird, was er leiſten kann? Wie
kurz iſt das Leben, und warum wollen wir
es mit unſern Beängſtigungen noch mehr
verkürzen? Jeder Künſtlergeiſt muß ſich
ohne Druck und äußern Zwang, wie ein
edler Baum mit ſeinen mancherlei Zweigen
und Äſten ausbreiten; er ſtrebt von ſelbſt
durch eigne Kraft nach den Wolken zu, und
ohne ſeine Mitwirkung erzeugt ſich die er¬
habene Pflanze, ſey es Eiche, Buche oder
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[11/0019] »Jetzt, lieber Sebaſtian, iſt mir ſehr wohl, und Du wirſt Dich darüber freuen. Meine Seele ergreift das Ferne und Nahe, die Gegenwart und Vergangenheit mit glei¬ cher Liebe, und alle Empfindungen trage ich ſorglich zu meiner Kunſt hinüber. War¬ um quäle ich mich ab, da ich mich doch am Ende überzeugen muß, daß jeder nur das leiſten wird, was er leiſten kann? Wie kurz iſt das Leben, und warum wollen wir es mit unſern Beängſtigungen noch mehr verkürzen? Jeder Künſtlergeiſt muß ſich ohne Druck und äußern Zwang, wie ein edler Baum mit ſeinen mancherlei Zweigen und Äſten ausbreiten; er ſtrebt von ſelbſt durch eigne Kraft nach den Wolken zu, und ohne ſeine Mitwirkung erzeugt ſich die er¬ habene Pflanze, ſey es Eiche, Buche oder Cypreſſe, Myrthe oder Roſengeſträuch, je nachdem der Keim beſchaffen war, aus dem

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald02_1798/19>, abgerufen am 28.03.2024.