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Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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des knausernden Buchhändlers annehmen müssen. Das Wort "verstoßen" hat mich immer besonders gerührt, wenn geringere Frauen es brauchten, indem sie in der Noth gute oder geliebte Kleider versetzen oder verkaufen mußten. Es klingt fast wie von Kindern. -- Verstoßen! -- Wie Lear Cordelien, so ich meinen Chaucer. -- Hat aber Clara nicht ihr einziges gutes Kleid, noch jenes von der Flucht her, längst verkauft? Schon unterwegs! -- Ja, Christine ist doch mehr werth, als der Chaucer, und sie muß auch vom Ertrage etwas erhalten. Nur wird sie es nicht nehmen wollen.

Caliban, der den trunkenen Stefano, noch mehr aber dessen wohlschmeckenden Wein bewundert, kniet vor den Trunkenbold hin, sagt flehend und mit aufgehobenen Händen: "Bitte, sei mein Gott!"

Darüber lachen wir; und viele Beamte, viele Besternte und Vornehme lachen mit, die zum elenden Minister oder zum trunkenen Fürsten oder zur widerwärtigen Maitresse eben so flehend sagen: "Bitte, sei mein Gott! Ich weiß meine Verehrung, meinen Glauben, das Bedürfniß, Etwas anzubeten, nirgend anzubringen: mir fehlt ein Gott, an den ich glauben könnte, dem ich dienen, dem ich mein Herz widmen möchte, völlig; sei du es, denn -- du hast guten Wein, und der wird hoffentlich vorhalten."

Wir lachen über den Caliban und seinen Sclavensinn, weil hier, wie beim Shakespeare immer, im Komischen verhüllt eine unendliche, eine schlagende Wahrheit

des knausernden Buchhändlers annehmen müssen. Das Wort „verstoßen“ hat mich immer besonders gerührt, wenn geringere Frauen es brauchten, indem sie in der Noth gute oder geliebte Kleider versetzen oder verkaufen mußten. Es klingt fast wie von Kindern. — Verstoßen! — Wie Lear Cordelien, so ich meinen Chaucer. — Hat aber Clara nicht ihr einziges gutes Kleid, noch jenes von der Flucht her, längst verkauft? Schon unterwegs! — Ja, Christine ist doch mehr werth, als der Chaucer, und sie muß auch vom Ertrage etwas erhalten. Nur wird sie es nicht nehmen wollen.

Caliban, der den trunkenen Stefano, noch mehr aber dessen wohlschmeckenden Wein bewundert, kniet vor den Trunkenbold hin, sagt flehend und mit aufgehobenen Händen: „Bitte, sei mein Gott!“

Darüber lachen wir; und viele Beamte, viele Besternte und Vornehme lachen mit, die zum elenden Minister oder zum trunkenen Fürsten oder zur widerwärtigen Maitresse eben so flehend sagen: „Bitte, sei mein Gott! Ich weiß meine Verehrung, meinen Glauben, das Bedürfniß, Etwas anzubeten, nirgend anzubringen: mir fehlt ein Gott, an den ich glauben könnte, dem ich dienen, dem ich mein Herz widmen möchte, völlig; sei du es, denn — du hast guten Wein, und der wird hoffentlich vorhalten.“

Wir lachen über den Caliban und seinen Sclavensinn, weil hier, wie beim Shakespeare immer, im Komischen verhüllt eine unendliche, eine schlagende Wahrheit

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[0031] des knausernden Buchhändlers annehmen müssen. Das Wort „verstoßen“ hat mich immer besonders gerührt, wenn geringere Frauen es brauchten, indem sie in der Noth gute oder geliebte Kleider versetzen oder verkaufen mußten. Es klingt fast wie von Kindern. — Verstoßen! — Wie Lear Cordelien, so ich meinen Chaucer. — Hat aber Clara nicht ihr einziges gutes Kleid, noch jenes von der Flucht her, längst verkauft? Schon unterwegs! — Ja, Christine ist doch mehr werth, als der Chaucer, und sie muß auch vom Ertrage etwas erhalten. Nur wird sie es nicht nehmen wollen. Caliban, der den trunkenen Stefano, noch mehr aber dessen wohlschmeckenden Wein bewundert, kniet vor den Trunkenbold hin, sagt flehend und mit aufgehobenen Händen: „Bitte, sei mein Gott!“ Darüber lachen wir; und viele Beamte, viele Besternte und Vornehme lachen mit, die zum elenden Minister oder zum trunkenen Fürsten oder zur widerwärtigen Maitresse eben so flehend sagen: „Bitte, sei mein Gott! Ich weiß meine Verehrung, meinen Glauben, das Bedürfniß, Etwas anzubeten, nirgend anzubringen: mir fehlt ein Gott, an den ich glauben könnte, dem ich dienen, dem ich mein Herz widmen möchte, völlig; sei du es, denn — du hast guten Wein, und der wird hoffentlich vorhalten.“ Wir lachen über den Caliban und seinen Sclavensinn, weil hier, wie beim Shakespeare immer, im Komischen verhüllt eine unendliche, eine schlagende Wahrheit

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:30:27Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:30:27Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/31>, abgerufen am 25.04.2024.