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Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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ich nicht irre) sagt unter andern seiner weisen Lehren einmal sehr kurz und bündig: "Carpe diem!" genieße den Tag, den du gerade vor dir hast, gieb dich ihm ganz hin, bemächtige dich seiner, als eines, der niemals wiederkehrt; das kannst du aber gar nicht vollständig, wenn du auch nur an ein mögliches Morgen denkst; geschieht dies gar mit Sorgen und Zweifeln, so ist dir ja der gegenwärtige Tag, diese Stunde, der du dich erfreust, schon verloren, indem du sie durch ängstliche Fragen dir verkümmerst. Wir kommen nur zum Bewußtsein der Gegenwart, wir können nur leben und glücklich sein, wenn wir uns ganz in diese stürzen. Sieh! so viel liegt in den zwei Worten dieser lateinischen Sprache, die darum wohl mit Recht eine bündige und energische genannt wird, weil sie mit so kleinen Lauten so vielerlei ausdrücken kann. Und kennst du nicht die Liederzeilen:

Alle Sorgen Nur auf morgen; Sorgen sind für morgen gut.

Richtig! erwiderte sie, haben wir uns doch seit einem Jahre diese Philosophie zu eigen gemacht und befinden uns wohl dabei.

ich nicht irre) sagt unter andern seiner weisen Lehren einmal sehr kurz und bündig: „Carpe diem!“ genieße den Tag, den du gerade vor dir hast, gieb dich ihm ganz hin, bemächtige dich seiner, als eines, der niemals wiederkehrt; das kannst du aber gar nicht vollständig, wenn du auch nur an ein mögliches Morgen denkst; geschieht dies gar mit Sorgen und Zweifeln, so ist dir ja der gegenwärtige Tag, diese Stunde, der du dich erfreust, schon verloren, indem du sie durch ängstliche Fragen dir verkümmerst. Wir kommen nur zum Bewußtsein der Gegenwart, wir können nur leben und glücklich sein, wenn wir uns ganz in diese stürzen. Sieh! so viel liegt in den zwei Worten dieser lateinischen Sprache, die darum wohl mit Recht eine bündige und energische genannt wird, weil sie mit so kleinen Lauten so vielerlei ausdrücken kann. Und kennst du nicht die Liederzeilen:

Alle Sorgen Nur auf morgen; Sorgen sind für morgen gut.

Richtig! erwiderte sie, haben wir uns doch seit einem Jahre diese Philosophie zu eigen gemacht und befinden uns wohl dabei.

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[0043] ich nicht irre) sagt unter andern seiner weisen Lehren einmal sehr kurz und bündig: „Carpe diem!“ genieße den Tag, den du gerade vor dir hast, gieb dich ihm ganz hin, bemächtige dich seiner, als eines, der niemals wiederkehrt; das kannst du aber gar nicht vollständig, wenn du auch nur an ein mögliches Morgen denkst; geschieht dies gar mit Sorgen und Zweifeln, so ist dir ja der gegenwärtige Tag, diese Stunde, der du dich erfreust, schon verloren, indem du sie durch ängstliche Fragen dir verkümmerst. Wir kommen nur zum Bewußtsein der Gegenwart, wir können nur leben und glücklich sein, wenn wir uns ganz in diese stürzen. Sieh! so viel liegt in den zwei Worten dieser lateinischen Sprache, die darum wohl mit Recht eine bündige und energische genannt wird, weil sie mit so kleinen Lauten so vielerlei ausdrücken kann. Und kennst du nicht die Liederzeilen: Alle Sorgen Nur auf morgen; Sorgen sind für morgen gut. Richtig! erwiderte sie, haben wir uns doch seit einem Jahre diese Philosophie zu eigen gemacht und befinden uns wohl dabei.

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/43>, abgerufen am 25.04.2024.