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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Siebenter Abschnitt.

Altständisches Stillleben in Norddeutschland.

In jenen matten Zeiten, da die Deutschen an ihrer Zukunft mit
Gelassenheit verzweifelten, pflegte die Geschichtsphilosophie des Particula-
rismus aus der Noth eine Tugend zu machen und die Zersplitterung
des Vaterlandes gradeswegs aus dem Charakter unseres Volkes herzu-
leiten. Und doch lehrte der Augenschein, damals noch deutlicher als heute,
daß die bunte Mannichfaltigkeit unserer Staatsgebilde keineswegs in der
natürlichen Anlage der deutschen Stämme und Stammessplitter ihren
Grund hatte. Bis zum Jahre 1830 standen die kleinen Territorien des
Nordens in ihrer politischen Entwicklung dem preußischen Staate ferner
als die constitutionellen Staaten des Südens; sie verharrten in einer
veralteten Gesellschaftsordnung, welche die norddeutsche Großmacht schon
seit den Tagen des großen Kurfürsten, Süddeutschland seit dem napoleo-
nischen Zeitalter überwunden hatte. In Preußen wie in Baiern, Würt-
temberg, Baden, war der altständische Staat im Wesentlichen zerstört.
Hier wie dort bestand, wenn auch in sehr verschiedenen Formen, ein
modernes Gemeinwesen, das auf den Gedanken des gemeinen Rechtes
und der Staatseinheit ruhte. Hier wie dort schaltete eine lebendige mon-
archische Gewalt über den socialen Gegensätzen und suchte Adel, Bürger,
Bauern zu gemeinsamer Arbeit für den Staat heranzuziehen. Hier wie
dort wurde der Staat durch die Erwerbung neuer, schwer zu versöhnen-
der, kirchlich gemischter Provinzen zu rühriger Verwaltungsthätigkeit und
zu einer wachsamen Kirchenpolitik genöthigt.

Wie anders der Zustand der norddeutschen Klein- und Mittelstaaten,
die durch Nachbarschaft und Verkehr, durch die Gemeinschaft des Blutes
und der protestantischen Bildung, auch durch die Macht ihres Großgrund-
besitzes und die Aehnlichkeit der socialen Zustände ganz auf Preußen an-
gewiesen schienen und gleichwohl durch die unheimliche Erstarrung ihres
politischen Lebens dem mächtigen Nachbar völlig entfremdet waren. Sie
hatten aus dem Länderhandel der napoleonischen Tage nur geringfügige
oder auch gar keine Erwerbungen davon getragen und bewahrten sich mit

Siebenter Abſchnitt.

Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.

In jenen matten Zeiten, da die Deutſchen an ihrer Zukunft mit
Gelaſſenheit verzweifelten, pflegte die Geſchichtsphiloſophie des Particula-
rismus aus der Noth eine Tugend zu machen und die Zerſplitterung
des Vaterlandes gradeswegs aus dem Charakter unſeres Volkes herzu-
leiten. Und doch lehrte der Augenſchein, damals noch deutlicher als heute,
daß die bunte Mannichfaltigkeit unſerer Staatsgebilde keineswegs in der
natürlichen Anlage der deutſchen Stämme und Stammesſplitter ihren
Grund hatte. Bis zum Jahre 1830 ſtanden die kleinen Territorien des
Nordens in ihrer politiſchen Entwicklung dem preußiſchen Staate ferner
als die conſtitutionellen Staaten des Südens; ſie verharrten in einer
veralteten Geſellſchaftsordnung, welche die norddeutſche Großmacht ſchon
ſeit den Tagen des großen Kurfürſten, Süddeutſchland ſeit dem napoleo-
niſchen Zeitalter überwunden hatte. In Preußen wie in Baiern, Würt-
temberg, Baden, war der altſtändiſche Staat im Weſentlichen zerſtört.
Hier wie dort beſtand, wenn auch in ſehr verſchiedenen Formen, ein
modernes Gemeinweſen, das auf den Gedanken des gemeinen Rechtes
und der Staatseinheit ruhte. Hier wie dort ſchaltete eine lebendige mon-
archiſche Gewalt über den ſocialen Gegenſätzen und ſuchte Adel, Bürger,
Bauern zu gemeinſamer Arbeit für den Staat heranzuziehen. Hier wie
dort wurde der Staat durch die Erwerbung neuer, ſchwer zu verſöhnen-
der, kirchlich gemiſchter Provinzen zu rühriger Verwaltungsthätigkeit und
zu einer wachſamen Kirchenpolitik genöthigt.

Wie anders der Zuſtand der norddeutſchen Klein- und Mittelſtaaten,
die durch Nachbarſchaft und Verkehr, durch die Gemeinſchaft des Blutes
und der proteſtantiſchen Bildung, auch durch die Macht ihres Großgrund-
beſitzes und die Aehnlichkeit der ſocialen Zuſtände ganz auf Preußen an-
gewieſen ſchienen und gleichwohl durch die unheimliche Erſtarrung ihres
politiſchen Lebens dem mächtigen Nachbar völlig entfremdet waren. Sie
hatten aus dem Länderhandel der napoleoniſchen Tage nur geringfügige
oder auch gar keine Erwerbungen davon getragen und bewahrten ſich mit

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[[486]/0502] Siebenter Abſchnitt. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. In jenen matten Zeiten, da die Deutſchen an ihrer Zukunft mit Gelaſſenheit verzweifelten, pflegte die Geſchichtsphiloſophie des Particula- rismus aus der Noth eine Tugend zu machen und die Zerſplitterung des Vaterlandes gradeswegs aus dem Charakter unſeres Volkes herzu- leiten. Und doch lehrte der Augenſchein, damals noch deutlicher als heute, daß die bunte Mannichfaltigkeit unſerer Staatsgebilde keineswegs in der natürlichen Anlage der deutſchen Stämme und Stammesſplitter ihren Grund hatte. Bis zum Jahre 1830 ſtanden die kleinen Territorien des Nordens in ihrer politiſchen Entwicklung dem preußiſchen Staate ferner als die conſtitutionellen Staaten des Südens; ſie verharrten in einer veralteten Geſellſchaftsordnung, welche die norddeutſche Großmacht ſchon ſeit den Tagen des großen Kurfürſten, Süddeutſchland ſeit dem napoleo- niſchen Zeitalter überwunden hatte. In Preußen wie in Baiern, Würt- temberg, Baden, war der altſtändiſche Staat im Weſentlichen zerſtört. Hier wie dort beſtand, wenn auch in ſehr verſchiedenen Formen, ein modernes Gemeinweſen, das auf den Gedanken des gemeinen Rechtes und der Staatseinheit ruhte. Hier wie dort ſchaltete eine lebendige mon- archiſche Gewalt über den ſocialen Gegenſätzen und ſuchte Adel, Bürger, Bauern zu gemeinſamer Arbeit für den Staat heranzuziehen. Hier wie dort wurde der Staat durch die Erwerbung neuer, ſchwer zu verſöhnen- der, kirchlich gemiſchter Provinzen zu rühriger Verwaltungsthätigkeit und zu einer wachſamen Kirchenpolitik genöthigt. Wie anders der Zuſtand der norddeutſchen Klein- und Mittelſtaaten, die durch Nachbarſchaft und Verkehr, durch die Gemeinſchaft des Blutes und der proteſtantiſchen Bildung, auch durch die Macht ihres Großgrund- beſitzes und die Aehnlichkeit der ſocialen Zuſtände ganz auf Preußen an- gewieſen ſchienen und gleichwohl durch die unheimliche Erſtarrung ihres politiſchen Lebens dem mächtigen Nachbar völlig entfremdet waren. Sie hatten aus dem Länderhandel der napoleoniſchen Tage nur geringfügige oder auch gar keine Erwerbungen davon getragen und bewahrten ſich mit

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. [486]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/502>, abgerufen am 25.04.2024.