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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Verfall des Julikönigthums. Belgische Festungen.
auch, als er die Mächte aufforderte, die seit zwölf Jahren vertragsmäßig
ausbedungene Schleifung der südbelgischen Festungen, die das kleine König-
reich gar nicht vertheidigen konnte, nunmehr endlich durchzusetzen.*) Diesen
"infamen Festungsvertrag" hatte die Pariser Presse seit Jahren immer
wieder für null und nichtig erklärt. Die Franzosen betrachteten es als
ihr gutes Recht, daß ihnen im Kriegsfalle die festen Plätze des neutralen
Belgiens ohne Widerstand geöffnet würden; und -- so friedensselig war
die Welt -- als Preußen jetzt an die alte unbestreitbare Vertragspflicht
erinnerte, da zeigten sich Aberdeen, Metternich, Nesselrode allesammt sehr
unlustig. Um Preußens willen wollten sie den Tuilerienhof nicht kränken.**)
König Leopold aber beschwor die Mächte (31. März 1845), sie möchten ihn
nur jetzt nicht an die Verträge mahnen, ihm nur jetzt nicht aus lauter
Freundschaft Händel bereiten mit den französischen Nachbarn und den
Parteien daheim. "Bisher", so schloß er, "hat man mir freundlich gestattet,
selber zu entscheiden, wann die Ausführung der Maßregel zeitgemäß wäre,
und ich wünsche sehr, daß man auch diesmal ebenso verfahren möge."***)
Die Mächte erhörten seine Bitte, und der kluge Coburger wußte dafür
zu sorgen, daß der rechte Zeitpunkt für die Erfüllung der Verträge nie-
mals eintrat.

In solchen Zeiten, da die großen politischen Gegensätze ruhen und
kein fruchtbarer neuer Gedanke eine entschiedene Parteistellung erzwingt,
pflegt das kleine diplomatische Ränkespiel zu blühen. Trotz der Legende
von dem Bunde des freien Westens und trotz der persönlichen Vertrau-
lichkeit der beiden Königshöfe stellte sich das belobte herzliche Einvernehmen
zwischen England und Frankreich nie wieder vollständig her. Diesseits
wie jenseits des Kanals hatten die letzten Kämpfe ihren Stachel zurück-
gelassen, die natürliche Eifersucht brach überall hervor. Sie zeigte sich
als England das Recht verdächtige Sklavenschiffe zu durchsuchen verlangte,
und wieder als die Missionäre der beiden Nationen auf den Inseln der
Südsee sich befehdeten, und nochmals als Frankreich einen Streit mit
den bösen marokkanischen Nachbarn, um nur Englands Einmischung zu
verhindern, durch einen milden Friedensschluß schleunig beilegte. Alle
diese kleinen Händel wurden durch den Parteihaß der Franzosen mit maß-
loser Uebertreibung ausgebeutet; die Pariser Presse blieb dabei, dies Mi-
nisterium des Auslands wage nirgends den Fremden die Zähne zu zeigen.
Und allerdings pflegte Guizot die berechtigten wie die unberechtigten Auf-
wallungen der nationalen Empfindlichkeit mit wegwerfender Verachtung
abzufertigen; seinen Hörern war dabei zu Muthe, als ob er selbst die
Fragen der auswärtigen Politik nur mit kalter Hundsnase obenhin be-

*) S. o. IV. 80.
**) Berichte von Liebermann, 27. März 1844; von Bunsen, 18. 31. März 1845.
Brunnow an Nesselrode, 8. April 1845.
***) König Leopold von Belgien an v. d. Weyer in London, 31. März 1845.

Verfall des Julikönigthums. Belgiſche Feſtungen.
auch, als er die Mächte aufforderte, die ſeit zwölf Jahren vertragsmäßig
ausbedungene Schleifung der ſüdbelgiſchen Feſtungen, die das kleine König-
reich gar nicht vertheidigen konnte, nunmehr endlich durchzuſetzen.*) Dieſen
„infamen Feſtungsvertrag“ hatte die Pariſer Preſſe ſeit Jahren immer
wieder für null und nichtig erklärt. Die Franzoſen betrachteten es als
ihr gutes Recht, daß ihnen im Kriegsfalle die feſten Plätze des neutralen
Belgiens ohne Widerſtand geöffnet würden; und — ſo friedensſelig war
die Welt — als Preußen jetzt an die alte unbeſtreitbare Vertragspflicht
erinnerte, da zeigten ſich Aberdeen, Metternich, Neſſelrode alleſammt ſehr
unluſtig. Um Preußens willen wollten ſie den Tuilerienhof nicht kränken.**)
König Leopold aber beſchwor die Mächte (31. März 1845), ſie möchten ihn
nur jetzt nicht an die Verträge mahnen, ihm nur jetzt nicht aus lauter
Freundſchaft Händel bereiten mit den franzöſiſchen Nachbarn und den
Parteien daheim. „Bisher“, ſo ſchloß er, „hat man mir freundlich geſtattet,
ſelber zu entſcheiden, wann die Ausführung der Maßregel zeitgemäß wäre,
und ich wünſche ſehr, daß man auch diesmal ebenſo verfahren möge.“***)
Die Mächte erhörten ſeine Bitte, und der kluge Coburger wußte dafür
zu ſorgen, daß der rechte Zeitpunkt für die Erfüllung der Verträge nie-
mals eintrat.

In ſolchen Zeiten, da die großen politiſchen Gegenſätze ruhen und
kein fruchtbarer neuer Gedanke eine entſchiedene Parteiſtellung erzwingt,
pflegt das kleine diplomatiſche Ränkeſpiel zu blühen. Trotz der Legende
von dem Bunde des freien Weſtens und trotz der perſönlichen Vertrau-
lichkeit der beiden Königshöfe ſtellte ſich das belobte herzliche Einvernehmen
zwiſchen England und Frankreich nie wieder vollſtändig her. Dieſſeits
wie jenſeits des Kanals hatten die letzten Kämpfe ihren Stachel zurück-
gelaſſen, die natürliche Eiferſucht brach überall hervor. Sie zeigte ſich
als England das Recht verdächtige Sklavenſchiffe zu durchſuchen verlangte,
und wieder als die Miſſionäre der beiden Nationen auf den Inſeln der
Südſee ſich befehdeten, und nochmals als Frankreich einen Streit mit
den böſen marokkaniſchen Nachbarn, um nur Englands Einmiſchung zu
verhindern, durch einen milden Friedensſchluß ſchleunig beilegte. Alle
dieſe kleinen Händel wurden durch den Parteihaß der Franzoſen mit maß-
loſer Uebertreibung ausgebeutet; die Pariſer Preſſe blieb dabei, dies Mi-
niſterium des Auslands wage nirgends den Fremden die Zähne zu zeigen.
Und allerdings pflegte Guizot die berechtigten wie die unberechtigten Auf-
wallungen der nationalen Empfindlichkeit mit wegwerfender Verachtung
abzufertigen; ſeinen Hörern war dabei zu Muthe, als ob er ſelbſt die
Fragen der auswärtigen Politik nur mit kalter Hundsnaſe obenhin be-

*) S. o. IV. 80.
**) Berichte von Liebermann, 27. März 1844; von Bunſen, 18. 31. März 1845.
Brunnow an Neſſelrode, 8. April 1845.
***) König Leopold von Belgien an v. d. Weyer in London, 31. März 1845.
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[525/0539] Verfall des Julikönigthums. Belgiſche Feſtungen. auch, als er die Mächte aufforderte, die ſeit zwölf Jahren vertragsmäßig ausbedungene Schleifung der ſüdbelgiſchen Feſtungen, die das kleine König- reich gar nicht vertheidigen konnte, nunmehr endlich durchzuſetzen. *) Dieſen „infamen Feſtungsvertrag“ hatte die Pariſer Preſſe ſeit Jahren immer wieder für null und nichtig erklärt. Die Franzoſen betrachteten es als ihr gutes Recht, daß ihnen im Kriegsfalle die feſten Plätze des neutralen Belgiens ohne Widerſtand geöffnet würden; und — ſo friedensſelig war die Welt — als Preußen jetzt an die alte unbeſtreitbare Vertragspflicht erinnerte, da zeigten ſich Aberdeen, Metternich, Neſſelrode alleſammt ſehr unluſtig. Um Preußens willen wollten ſie den Tuilerienhof nicht kränken. **) König Leopold aber beſchwor die Mächte (31. März 1845), ſie möchten ihn nur jetzt nicht an die Verträge mahnen, ihm nur jetzt nicht aus lauter Freundſchaft Händel bereiten mit den franzöſiſchen Nachbarn und den Parteien daheim. „Bisher“, ſo ſchloß er, „hat man mir freundlich geſtattet, ſelber zu entſcheiden, wann die Ausführung der Maßregel zeitgemäß wäre, und ich wünſche ſehr, daß man auch diesmal ebenſo verfahren möge.“ ***) Die Mächte erhörten ſeine Bitte, und der kluge Coburger wußte dafür zu ſorgen, daß der rechte Zeitpunkt für die Erfüllung der Verträge nie- mals eintrat. In ſolchen Zeiten, da die großen politiſchen Gegenſätze ruhen und kein fruchtbarer neuer Gedanke eine entſchiedene Parteiſtellung erzwingt, pflegt das kleine diplomatiſche Ränkeſpiel zu blühen. Trotz der Legende von dem Bunde des freien Weſtens und trotz der perſönlichen Vertrau- lichkeit der beiden Königshöfe ſtellte ſich das belobte herzliche Einvernehmen zwiſchen England und Frankreich nie wieder vollſtändig her. Dieſſeits wie jenſeits des Kanals hatten die letzten Kämpfe ihren Stachel zurück- gelaſſen, die natürliche Eiferſucht brach überall hervor. Sie zeigte ſich als England das Recht verdächtige Sklavenſchiffe zu durchſuchen verlangte, und wieder als die Miſſionäre der beiden Nationen auf den Inſeln der Südſee ſich befehdeten, und nochmals als Frankreich einen Streit mit den böſen marokkaniſchen Nachbarn, um nur Englands Einmiſchung zu verhindern, durch einen milden Friedensſchluß ſchleunig beilegte. Alle dieſe kleinen Händel wurden durch den Parteihaß der Franzoſen mit maß- loſer Uebertreibung ausgebeutet; die Pariſer Preſſe blieb dabei, dies Mi- niſterium des Auslands wage nirgends den Fremden die Zähne zu zeigen. Und allerdings pflegte Guizot die berechtigten wie die unberechtigten Auf- wallungen der nationalen Empfindlichkeit mit wegwerfender Verachtung abzufertigen; ſeinen Hörern war dabei zu Muthe, als ob er ſelbſt die Fragen der auswärtigen Politik nur mit kalter Hundsnaſe obenhin be- *) S. o. IV. 80. **) Berichte von Liebermann, 27. März 1844; von Bunſen, 18. 31. März 1845. Brunnow an Neſſelrode, 8. April 1845. ***) König Leopold von Belgien an v. d. Weyer in London, 31. März 1845.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/539>, abgerufen am 29.03.2024.