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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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An Varnhagen, in Tübingen.

Nun ist es wahr, nun ist die rasende Zeit, vor der ich
mich nicht einmal fürchten wollte. Dich zu lieben sträubt' ich
mich; das war ja vernünftig; ich wollte dem Entbehren, dem
neuen Missen nicht den edlen Hals beugen; und es war doch
edler, das Herz gehen zu lassen. Nur das Glück weigerte,
blieb aus wie immer. -- Mit dir könnte es ein Leben sein,
so ist es nur -- ein Steuren, ein Steuren ohne Ziel!

Du hast gesehen, ob leere hohle Wünsche mich treiben,
ob ich nicht das ganze Leben mit einem Freunde, bei einem
Einzigen, in seiner ganzen Fülle und Mannigfaltigkeit finde.
Und was ich leisten könnte, hat mir ja das zerstreute Schick-
sal noch nie abgefordert! --

Seit zehn Tagen habe ich ein Katarrhalfieber; gestern
war der neunte Tag: ich hoffte, wie immer, der letzte; ich
spürte aber auch heute noch Fieberbewegung, und habe zu be-
stimmten Stunden Nervenzustände. Immer so bei mir, jedes
Fieber ist ein gelindes Nervenfieber. Bis gestern war ich in
dem tiefruhigsten Zustand dabei: es war eine Erlösung, die
mir von oben kam. Ich konnte mich in meinen Zustand, in
mein Haus, in deinen Verlust nicht fassen und finden: ruhig
machte mich plötzlich das Fieber. Glaube aber nicht, daß ich
von Agitation krank geworden bin: von reiner Erkältung;
Rheumatism auf den Nerven: wie ewig bei mir. Aber er
hätte mich nicht erlegt, hätte ein überaus großer Schreck, der

23 *
An Varnhagen, in Tübingen.

Nun iſt es wahr, nun iſt die raſende Zeit, vor der ich
mich nicht einmal fürchten wollte. Dich zu lieben ſträubt’ ich
mich; das war ja vernünftig; ich wollte dem Entbehren, dem
neuen Miſſen nicht den edlen Hals beugen; und es war doch
edler, das Herz gehen zu laſſen. Nur das Glück weigerte,
blieb aus wie immer. — Mit dir könnte es ein Leben ſein,
ſo iſt es nur — ein Steuren, ein Steuren ohne Ziel!

Du haſt geſehen, ob leere hohle Wünſche mich treiben,
ob ich nicht das ganze Leben mit einem Freunde, bei einem
Einzigen, in ſeiner ganzen Fülle und Mannigfaltigkeit finde.
Und was ich leiſten könnte, hat mir ja das zerſtreute Schick-
ſal noch nie abgefordert! —

Seit zehn Tagen habe ich ein Katarrhalfieber; geſtern
war der neunte Tag: ich hoffte, wie immer, der letzte; ich
ſpürte aber auch heute noch Fieberbewegung, und habe zu be-
ſtimmten Stunden Nervenzuſtände. Immer ſo bei mir, jedes
Fieber iſt ein gelindes Nervenfieber. Bis geſtern war ich in
dem tiefruhigſten Zuſtand dabei: es war eine Erlöſung, die
mir von oben kam. Ich konnte mich in meinen Zuſtand, in
mein Haus, in deinen Verluſt nicht faſſen und finden: ruhig
machte mich plötzlich das Fieber. Glaube aber nicht, daß ich
von Agitation krank geworden bin: von reiner Erkältung;
Rheumatism auf den Nerven: wie ewig bei mir. Aber er
hätte mich nicht erlegt, hätte ein überaus großer Schreck, der

23 *
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[355/0369] An Varnhagen, in Tübingen. Donnerstag, den 27. Oktober 1808. Nun iſt es wahr, nun iſt die raſende Zeit, vor der ich mich nicht einmal fürchten wollte. Dich zu lieben ſträubt’ ich mich; das war ja vernünftig; ich wollte dem Entbehren, dem neuen Miſſen nicht den edlen Hals beugen; und es war doch edler, das Herz gehen zu laſſen. Nur das Glück weigerte, blieb aus wie immer. — Mit dir könnte es ein Leben ſein, ſo iſt es nur — ein Steuren, ein Steuren ohne Ziel! Du haſt geſehen, ob leere hohle Wünſche mich treiben, ob ich nicht das ganze Leben mit einem Freunde, bei einem Einzigen, in ſeiner ganzen Fülle und Mannigfaltigkeit finde. Und was ich leiſten könnte, hat mir ja das zerſtreute Schick- ſal noch nie abgefordert! — Seit zehn Tagen habe ich ein Katarrhalfieber; geſtern war der neunte Tag: ich hoffte, wie immer, der letzte; ich ſpürte aber auch heute noch Fieberbewegung, und habe zu be- ſtimmten Stunden Nervenzuſtände. Immer ſo bei mir, jedes Fieber iſt ein gelindes Nervenfieber. Bis geſtern war ich in dem tiefruhigſten Zuſtand dabei: es war eine Erlöſung, die mir von oben kam. Ich konnte mich in meinen Zuſtand, in mein Haus, in deinen Verluſt nicht faſſen und finden: ruhig machte mich plötzlich das Fieber. Glaube aber nicht, daß ich von Agitation krank geworden bin: von reiner Erkältung; Rheumatism auf den Nerven: wie ewig bei mir. Aber er hätte mich nicht erlegt, hätte ein überaus großer Schreck, der 23 *

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/369>, abgerufen am 24.04.2024.