Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

lege dir ein kleines Blättchen ein, was Heinse über die schwei-
zerischen Landtänze sagt: natürlich habe ich nie welche ge-
sehen; aber ich weiß doch, daß es so wahr ist: wie man es
an guten Portraiten sieht, daß sie ähnlich sind, ohne je die
Menschen gesehen zu haben, die sie vorstellen. Rembrandt
hat solche in der Pariser Galerie! und wie schön, wie perlen-
artig abgesondert hervorsprudelnd, wie wenig bedacht die lie-
ben Worte, mit denen er es erzählt! -- --


Heute kommen unsere Truppen herein: jetzt. Die Offi-
ziere -- dreihundert Kouverte -- speist die Stadt im Komö-
diensaale; der erste Rang ist für die Offiziere genommen,
übrigens ist Freikomödie, Harlekin und ein unbedeutendes
Stück. Die ganze Stadt ist hin, um sie zu sehen: ich
nicht. Den ganzen Morgen hab' ich häufige, bittere Thrä-
nen der Rührung und Kränkung geweint! O! Ich habe es
nie gewußt, daß ich mein Land so liebe! Wie Einer, der durch
Physik den Werth des Bluts etwa nicht kennt; wenn man's
ihm abzieht, wird er doch hinstürzen. Ich kann aus losge-
lassenem Schmerz nicht hingehn, jeder Reitknecht mit preußi-
schen Pferden, der vorbeigeht, pumpt mir einen Strom von
Thränen ab. Ich sprach laut im heftigsten Schluchzen zu
meines Freundes Büste. Ja, ich bin von meinem Lande ge-
nährt und erzogen; und denke, ich bin doch modifizirt über
alles, wie die Besten darin; dies wäre mir in jedem Lande
geschehen: aber ich habe ja in meinem gelebt; sehen, und den-
ken, und Antheik nehmen lernen: und wahrlich, ein jeder war

lege dir ein kleines Blättchen ein, was Heinſe über die ſchwei-
zeriſchen Landtänze ſagt: natürlich habe ich nie welche ge-
ſehen; aber ich weiß doch, daß es ſo wahr iſt: wie man es
an guten Portraiten ſieht, daß ſie ähnlich ſind, ohne je die
Menſchen geſehen zu haben, die ſie vorſtellen. Rembrandt
hat ſolche in der Pariſer Galerie! und wie ſchön, wie perlen-
artig abgeſondert hervorſprudelnd, wie wenig bedacht die lie-
ben Worte, mit denen er es erzählt! — —


Heute kommen unſere Truppen herein: jetzt. Die Offi-
ziere — dreihundert Kouverte — ſpeiſt die Stadt im Komö-
dienſaale; der erſte Rang iſt für die Offiziere genommen,
übrigens iſt Freikomödie, Harlekin und ein unbedeutendes
Stück. Die ganze Stadt iſt hin, um ſie zu ſehen: ich
nicht. Den ganzen Morgen hab’ ich häufige, bittere Thrä-
nen der Rührung und Kränkung geweint! O! Ich habe es
nie gewußt, daß ich mein Land ſo liebe! Wie Einer, der durch
Phyſik den Werth des Bluts etwa nicht kennt; wenn man’s
ihm abzieht, wird er doch hinſtürzen. Ich kann aus losge-
laſſenem Schmerz nicht hingehn, jeder Reitknecht mit preußi-
ſchen Pferden, der vorbeigeht, pumpt mir einen Strom von
Thränen ab. Ich ſprach laut im heftigſten Schluchzen zu
meines Freundes Büſte. Ja, ich bin von meinem Lande ge-
nährt und erzogen; und denke, ich bin doch modifizirt über
alles, wie die Beſten darin; dies wäre mir in jedem Lande
geſchehen: aber ich habe ja in meinem gelebt; ſehen, und den-
ken, und Antheik nehmen lernen: und wahrlich, ein jeder war

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0391" n="377"/>
lege dir ein kleines Blättchen ein, was Hein&#x017F;e über die &#x017F;chwei-<lb/>
zeri&#x017F;chen Landtänze &#x017F;agt: natürlich habe ich nie welche ge-<lb/>
&#x017F;ehen; aber ich weiß doch, daß es &#x017F;o wahr i&#x017F;t: wie man es<lb/>
an guten Portraiten &#x017F;ieht, daß &#x017F;ie ähnlich &#x017F;ind, ohne je die<lb/>
Men&#x017F;chen ge&#x017F;ehen zu haben, die &#x017F;ie vor&#x017F;tellen. Rembrandt<lb/>
hat &#x017F;olche in der Pari&#x017F;er Galerie! und wie &#x017F;chön, wie perlen-<lb/>
artig abge&#x017F;ondert hervor&#x017F;prudelnd, wie wenig bedacht die lie-<lb/>
ben Worte, mit denen er es erzählt! &#x2014; &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonnabend, den 9. December.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Heute kommen un&#x017F;ere Truppen herein: <hi rendition="#g">jetzt</hi>. Die Offi-<lb/>
ziere &#x2014; dreihundert Kouverte &#x2014; &#x017F;pei&#x017F;t die Stadt im Komö-<lb/>
dien&#x017F;aale; der er&#x017F;te Rang i&#x017F;t für die Offiziere genommen,<lb/>
übrigens i&#x017F;t Freikomödie, Harlekin und ein unbedeutendes<lb/>
Stück. Die <hi rendition="#g">ganze Stadt</hi> i&#x017F;t hin, um &#x017F;ie zu &#x017F;ehen: ich<lb/>
nicht. Den ganzen Morgen hab&#x2019; ich häufige, bittere Thrä-<lb/>
nen der Rührung und Kränkung geweint! O! Ich habe es<lb/>
nie gewußt, daß ich mein Land &#x017F;o liebe! Wie Einer, der durch<lb/>
Phy&#x017F;ik den Werth des Bluts etwa nicht kennt; wenn man&#x2019;s<lb/>
ihm abzieht, wird er doch hin&#x017F;türzen. Ich kann aus losge-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;enem Schmerz nicht hingehn, jeder Reitknecht mit preußi-<lb/>
&#x017F;chen Pferden, der vorbeigeht, pumpt mir einen Strom von<lb/>
Thränen ab. Ich &#x017F;prach laut im heftig&#x017F;ten Schluchzen zu<lb/>
meines Freundes Bü&#x017F;te. Ja, ich bin von meinem Lande ge-<lb/>
nährt und erzogen; und denke, ich bin doch modifizirt über<lb/>
alles, wie die Be&#x017F;ten darin; dies wäre mir in jedem Lande<lb/>
ge&#x017F;chehen: aber ich habe ja in meinem gelebt; &#x017F;ehen, und den-<lb/>
ken, und Antheik nehmen lernen: und wahrlich, ein jeder war<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[377/0391] lege dir ein kleines Blättchen ein, was Heinſe über die ſchwei- zeriſchen Landtänze ſagt: natürlich habe ich nie welche ge- ſehen; aber ich weiß doch, daß es ſo wahr iſt: wie man es an guten Portraiten ſieht, daß ſie ähnlich ſind, ohne je die Menſchen geſehen zu haben, die ſie vorſtellen. Rembrandt hat ſolche in der Pariſer Galerie! und wie ſchön, wie perlen- artig abgeſondert hervorſprudelnd, wie wenig bedacht die lie- ben Worte, mit denen er es erzählt! — — Sonnabend, den 9. December. Heute kommen unſere Truppen herein: jetzt. Die Offi- ziere — dreihundert Kouverte — ſpeiſt die Stadt im Komö- dienſaale; der erſte Rang iſt für die Offiziere genommen, übrigens iſt Freikomödie, Harlekin und ein unbedeutendes Stück. Die ganze Stadt iſt hin, um ſie zu ſehen: ich nicht. Den ganzen Morgen hab’ ich häufige, bittere Thrä- nen der Rührung und Kränkung geweint! O! Ich habe es nie gewußt, daß ich mein Land ſo liebe! Wie Einer, der durch Phyſik den Werth des Bluts etwa nicht kennt; wenn man’s ihm abzieht, wird er doch hinſtürzen. Ich kann aus losge- laſſenem Schmerz nicht hingehn, jeder Reitknecht mit preußi- ſchen Pferden, der vorbeigeht, pumpt mir einen Strom von Thränen ab. Ich ſprach laut im heftigſten Schluchzen zu meines Freundes Büſte. Ja, ich bin von meinem Lande ge- nährt und erzogen; und denke, ich bin doch modifizirt über alles, wie die Beſten darin; dies wäre mir in jedem Lande geſchehen: aber ich habe ja in meinem gelebt; ſehen, und den- ken, und Antheik nehmen lernen: und wahrlich, ein jeder war

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/391
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/391>, abgerufen am 16.04.2024.