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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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darüber ist die gedrängteste Bemerkung die, welche ich an-
führte, und wo sich Geschichten darum bis zur Niedrigkeit und
bis zur Tragik bewegen; die Menschen treffen sich nicht; Vor-
urtheil, wenn sie sich getroffen haben, trennt sie, der Harfner,
Aurelia u. s. w. und da der Mensch hier nichts begreift, weil
ihm die andre Hälfte, wozu dies Irrspiel gehören mag, fehlt,
so bricht Meister und Goethe in die Betrachtung aus, daß
unser Mögliches hier, was wir dafür halten, auch mit Ket-
ten gehalten sein mag, an Pilastern, die auf andern Welten
ruhen, die wir nicht kennen; unterdeß bewegen sich aber die
Menschen, und dies trägt er uns in seinem Buche wie in
einem Spiegel vor. Verzeih, und sieh die entsetzliche Eil! --
Künftig einmal über jedes Wort!




-- Mir fällt aber immer ein, was Goethe's Carlos dem
Clavigo sagt, nämlich, es sei nichts Erbärmlicheres als ein
Mensch zwischen zwei Empfindungen, von denen er keiner
ganz angehört; anderes, als dieser musenvergessene Mensch
weiß ich auch nichts. Könnt' ich verhindern, daß dieser Brief
in der rauhen Entfernung kein Leid machte! Vergeblich! Es
entwickelt sich Stufe vor Stufe, Folge aus Folge: und das
Reich des Herzens und die andern Reiche scheinen ohne Zu-
sammenhang. Glück hat der, dem dieser Folgengang wohl-
thut, Unglück der, dem er weh thut. --

Nun hab' ich geweint; und es ist mir in der That, als
sei ein Tropfen gelöset von dem finstern Strome tief in mir;
ein Tropfen, nicht mehr! Ich habe in Heinse's Briefsammlung

gelesen.

darüber iſt die gedrängteſte Bemerkung die, welche ich an-
führte, und wo ſich Geſchichten darum bis zur Niedrigkeit und
bis zur Tragik bewegen; die Menſchen treffen ſich nicht; Vor-
urtheil, wenn ſie ſich getroffen haben, trennt ſie, der Harfner,
Aurelia u. ſ. w. und da der Menſch hier nichts begreift, weil
ihm die andre Hälfte, wozu dies Irrſpiel gehören mag, fehlt,
ſo bricht Meiſter und Goethe in die Betrachtung aus, daß
unſer Mögliches hier, was wir dafür halten, auch mit Ket-
ten gehalten ſein mag, an Pilaſtern, die auf andern Welten
ruhen, die wir nicht kennen; unterdeß bewegen ſich aber die
Menſchen, und dies trägt er uns in ſeinem Buche wie in
einem Spiegel vor. Verzeih, und ſieh die entſetzliche Eil! —
Künftig einmal über jedes Wort!




— Mir fällt aber immer ein, was Goethe’s Carlos dem
Clavigo ſagt, nämlich, es ſei nichts Erbärmlicheres als ein
Menſch zwiſchen zwei Empfindungen, von denen er keiner
ganz angehört; anderes, als dieſer muſenvergeſſene Menſch
weiß ich auch nichts. Könnt’ ich verhindern, daß dieſer Brief
in der rauhen Entfernung kein Leid machte! Vergeblich! Es
entwickelt ſich Stufe vor Stufe, Folge aus Folge: und das
Reich des Herzens und die andern Reiche ſcheinen ohne Zu-
ſammenhang. Glück hat der, dem dieſer Folgengang wohl-
thut, Unglück der, dem er weh thut. —

Nun hab’ ich geweint; und es iſt mir in der That, als
ſei ein Tropfen gelöſet von dem finſtern Strome tief in mir;
ein Tropfen, nicht mehr! Ich habe in Heinſe’s Briefſammlung

geleſen.
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[384/0398] darüber iſt die gedrängteſte Bemerkung die, welche ich an- führte, und wo ſich Geſchichten darum bis zur Niedrigkeit und bis zur Tragik bewegen; die Menſchen treffen ſich nicht; Vor- urtheil, wenn ſie ſich getroffen haben, trennt ſie, der Harfner, Aurelia u. ſ. w. und da der Menſch hier nichts begreift, weil ihm die andre Hälfte, wozu dies Irrſpiel gehören mag, fehlt, ſo bricht Meiſter und Goethe in die Betrachtung aus, daß unſer Mögliches hier, was wir dafür halten, auch mit Ket- ten gehalten ſein mag, an Pilaſtern, die auf andern Welten ruhen, die wir nicht kennen; unterdeß bewegen ſich aber die Menſchen, und dies trägt er uns in ſeinem Buche wie in einem Spiegel vor. Verzeih, und ſieh die entſetzliche Eil! — Künftig einmal über jedes Wort! Berlin, den 17. December 1808. — Mir fällt aber immer ein, was Goethe’s Carlos dem Clavigo ſagt, nämlich, es ſei nichts Erbärmlicheres als ein Menſch zwiſchen zwei Empfindungen, von denen er keiner ganz angehört; anderes, als dieſer muſenvergeſſene Menſch weiß ich auch nichts. Könnt’ ich verhindern, daß dieſer Brief in der rauhen Entfernung kein Leid machte! Vergeblich! Es entwickelt ſich Stufe vor Stufe, Folge aus Folge: und das Reich des Herzens und die andern Reiche ſcheinen ohne Zu- ſammenhang. Glück hat der, dem dieſer Folgengang wohl- thut, Unglück der, dem er weh thut. — Nun hab’ ich geweint; und es iſt mir in der That, als ſei ein Tropfen gelöſet von dem finſtern Strome tief in mir; ein Tropfen, nicht mehr! Ich habe in Heinſe’s Briefſammlung geleſen.

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/398>, abgerufen am 29.03.2024.