Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An Varnhagen, in Töplitz.


Lieber guter Varnhagen. Wie ist dir? -- Wie ist ihm;
wie ist ihm jetzt? dacht' ich den ganzen Weg her; im schön-
sten Nebel, in der hellsten, reichsten, lichtesten Wundersonne;
allein, und mit Andern; bei Nacht und des Mittags. Gestern
war dir am ärgsten, gestern Abend: da war die Sonne rund
um die Erde, und du hattest deine Liebste nicht gesehen: und
viele solche Tage sollen vergehen! Lieber! Höre zum Troste,
daß ich mich weit mehr über das Getrenntsein von dir gräme,
als ich's je gedacht hätte. Auch mir ist ganz ängstlich: ich
fühle mich plötzlich so abgerissen, von Schutz, Sicherheit, und
Liebe, daß ich rund um mich herum gehen könnte, um nur zu
sehen, um nur zu finden: zu wem gehörst du denn? zu was?
Gestern machte ich gegen Abend den hertlichsten Gang mit
Marwitz und Lippe, wohl eine Meile, die Ostrawiese hinauf.
Du weißt, ob und wie ich Marwitz liebe, es waren zwei
Freunde: wir gingen manchmal still, groß und göttlich war
der weite Raum, die prachtvolle Sonne und Abendröthe, die
ernsten und ganz andern Bäume als in Böhmen, die unend-
lichen Alleen; allein ich mußte denken, allein und fremd bist
du hier, wenn diese Beiden nicht mitgehen wollen; allein und
fremd, wenn sie auch neben dir bleiben; du bist nicht ihr Lieb-
stes, sie beziehen nicht alles auf dich. Wie gewiß lebt' ich
bisher! Und ich war nicht undankbar, Varnhagen! nimm es
nicht so roh, wie das Wort hier dasteht: es war nicht nur

An Varnhagen, in Töplitz.


Lieber guter Varnhagen. Wie iſt dir? — Wie iſt ihm;
wie iſt ihm jetzt? dacht’ ich den ganzen Weg her; im ſchön-
ſten Nebel, in der hellſten, reichſten, lichteſten Wunderſonne;
allein, und mit Andern; bei Nacht und des Mittags. Geſtern
war dir am ärgſten, geſtern Abend: da war die Sonne rund
um die Erde, und du hatteſt deine Liebſte nicht geſehen: und
viele ſolche Tage ſollen vergehen! Lieber! Höre zum Troſte,
daß ich mich weit mehr über das Getrenntſein von dir gräme,
als ich’s je gedacht hätte. Auch mir iſt ganz ängſtlich: ich
fühle mich plötzlich ſo abgeriſſen, von Schutz, Sicherheit, und
Liebe, daß ich rund um mich herum gehen könnte, um nur zu
ſehen, um nur zu finden: zu wem gehörſt du denn? zu was?
Geſtern machte ich gegen Abend den hertlichſten Gang mit
Marwitz und Lippe, wohl eine Meile, die Oſtrawieſe hinauf.
Du weißt, ob und wie ich Marwitz liebe, es waren zwei
Freunde: wir gingen manchmal ſtill, groß und göttlich war
der weite Raum, die prachtvolle Sonne und Abendröthe, die
ernſten und ganz andern Bäume als in Böhmen, die unend-
lichen Alleen; allein ich mußte denken, allein und fremd biſt
du hier, wenn dieſe Beiden nicht mitgehen wollen; allein und
fremd, wenn ſie auch neben dir bleiben; du biſt nicht ihr Lieb-
ſtes, ſie beziehen nicht alles auf dich. Wie gewiß lebt’ ich
bisher! Und ich war nicht undankbar, Varnhagen! nimm es
nicht ſo roh, wie das Wort hier daſteht: es war nicht nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0540" n="526"/>
        <div n="2">
          <head>An Varnhagen, in Töplitz.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Dresden, Montag früh gegen 10 Uhr<lb/>
den 16. September 1811.</hi> </dateline><lb/>
          <p>Lieber guter Varnhagen. Wie i&#x017F;t dir? &#x2014; Wie i&#x017F;t ihm;<lb/>
wie i&#x017F;t ihm jetzt? dacht&#x2019; ich den ganzen Weg her; im &#x017F;chön-<lb/>
&#x017F;ten Nebel, in der hell&#x017F;ten, reich&#x017F;ten, lichte&#x017F;ten Wunder&#x017F;onne;<lb/>
allein, und mit Andern; bei Nacht und des Mittags. Ge&#x017F;tern<lb/>
war dir am ärg&#x017F;ten, ge&#x017F;tern Abend: da war die Sonne rund<lb/>
um die Erde, und du hatte&#x017F;t deine Lieb&#x017F;te nicht ge&#x017F;ehen: und<lb/>
viele &#x017F;olche Tage &#x017F;ollen vergehen! Lieber! Höre zum Tro&#x017F;te,<lb/>
daß ich mich weit mehr über das Getrennt&#x017F;ein von dir gräme,<lb/>
als ich&#x2019;s je gedacht hätte. Auch mir i&#x017F;t ganz äng&#x017F;tlich: ich<lb/>
fühle mich plötzlich &#x017F;o abgeri&#x017F;&#x017F;en, von Schutz, Sicherheit, und<lb/>
Liebe, daß ich rund um mich herum gehen könnte, um nur zu<lb/>
&#x017F;ehen, um nur zu finden: zu wem gehör&#x017F;t du denn? zu was?<lb/>
Ge&#x017F;tern machte ich gegen Abend den hertlich&#x017F;ten Gang mit<lb/>
Marwitz und Lippe, wohl eine Meile, die O&#x017F;trawie&#x017F;e hinauf.<lb/>
Du weißt, ob und wie ich Marwitz liebe, es waren zwei<lb/>
Freunde: wir gingen manchmal &#x017F;till, groß und göttlich war<lb/>
der weite Raum, die prachtvolle Sonne und Abendröthe, die<lb/>
ern&#x017F;ten und ganz andern Bäume als in Böhmen, die unend-<lb/>
lichen Alleen; allein ich mußte denken, allein und fremd bi&#x017F;t<lb/>
du hier, wenn die&#x017F;e Beiden nicht mitgehen wollen; allein und<lb/>
fremd, wenn &#x017F;ie auch neben dir bleiben; du bi&#x017F;t nicht ihr Lieb-<lb/>
&#x017F;tes, &#x017F;ie beziehen nicht alles auf dich. Wie gewiß lebt&#x2019; ich<lb/>
bisher! Und ich war nicht undankbar, Varnhagen! nimm es<lb/>
nicht &#x017F;o roh, wie das Wort hier da&#x017F;teht: es war nicht nur<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[526/0540] An Varnhagen, in Töplitz. Dresden, Montag früh gegen 10 Uhr den 16. September 1811. Lieber guter Varnhagen. Wie iſt dir? — Wie iſt ihm; wie iſt ihm jetzt? dacht’ ich den ganzen Weg her; im ſchön- ſten Nebel, in der hellſten, reichſten, lichteſten Wunderſonne; allein, und mit Andern; bei Nacht und des Mittags. Geſtern war dir am ärgſten, geſtern Abend: da war die Sonne rund um die Erde, und du hatteſt deine Liebſte nicht geſehen: und viele ſolche Tage ſollen vergehen! Lieber! Höre zum Troſte, daß ich mich weit mehr über das Getrenntſein von dir gräme, als ich’s je gedacht hätte. Auch mir iſt ganz ängſtlich: ich fühle mich plötzlich ſo abgeriſſen, von Schutz, Sicherheit, und Liebe, daß ich rund um mich herum gehen könnte, um nur zu ſehen, um nur zu finden: zu wem gehörſt du denn? zu was? Geſtern machte ich gegen Abend den hertlichſten Gang mit Marwitz und Lippe, wohl eine Meile, die Oſtrawieſe hinauf. Du weißt, ob und wie ich Marwitz liebe, es waren zwei Freunde: wir gingen manchmal ſtill, groß und göttlich war der weite Raum, die prachtvolle Sonne und Abendröthe, die ernſten und ganz andern Bäume als in Böhmen, die unend- lichen Alleen; allein ich mußte denken, allein und fremd biſt du hier, wenn dieſe Beiden nicht mitgehen wollen; allein und fremd, wenn ſie auch neben dir bleiben; du biſt nicht ihr Lieb- ſtes, ſie beziehen nicht alles auf dich. Wie gewiß lebt’ ich bisher! Und ich war nicht undankbar, Varnhagen! nimm es nicht ſo roh, wie das Wort hier daſteht: es war nicht nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/540
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/540>, abgerufen am 28.03.2024.