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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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sondern wiefern es nicht ist"; hiezu sollte in demselben Zusammenhange
gesetzt seyn: wiefern es aber das Daseyn des Allgemeinen in seiner
Einzelheit dennoch ebensosehr zugleich ist. Denn wir sind im Schönen;
hier ist wirklich dieses Einzelne wesentlich die Erscheinung des Allge-
meinen und bleibt sie auch in der Gestalt der Erhabenheit. Weiße aber
geht, wie schon gesagt, auf diesem Punkte über die ästhetische Sphäre
ganz hinaus in eine transcendente Welt, als deren Bruchstück nun das
Erhabene die einzelne Erscheinung hinstelle. Das Wahre ist vielmehr,
daß die Idee, wenn sie im Erhabenen über das Einzelne hinausweist,
nicht in eine andere Welt, sondern nur in ihre eigene hineinweist, in
welcher sie das Einzelne als ihr Individuum, d. h. als das Indi-
viduum ihrer präsenten Gattung ebensosehr setzt als aufhebt. Die Idee
bleibt ganz Präsenz, aber die einzelne Präsenz derselben weist über sich
in die unendliche Präsenz hinein, in welcher aber mit allem Andern
eben auch die einzelne vorliegende Präsenz obwohl aufgehoben, doch
ebensosehr gesetzt ist.

§. 85.

Die Bewegung des Erhabenen hat demnach ihren Grund zwar in dem1
qualitativen Verhältnisse der Idee zum Bilde; allein es tritt nun ein neues
Verhältniß des ästhetischen Gegenstands ein, nämlich ein Verhältniß zu um-
gebenden Gegenständen. Denn soll die Uebermacht der Idee in einem einzelnen
Gegenstande angeschaut werden, so müssen andere neben ihm stehen, in welchem
Bild und Idee sich im Gleichgewichte ruhiger Einheit befinden. Es macht sich
also jetzt ein Größenbegriff geltend, das Qualitative wird quantitativ und der
Größenbegriff schließt ein Maßverhältniß in sich, denn der erhabene Gegenstand
soll nicht blos als groß, sondern als schlechthin oder über alle Vergleichung
groß erscheinen (Kant), und dies setzt ein messendes Vergleichen mit den um-
gebenden Gegenständen voraus. Allein wenn in diesem Verhältnisse die in dem2
schlechthin groß erscheinenden Gegenstande wirkende Idee zwar alles Umgebende
als ein gegen ihre Unendlichkeit Verschwindendes hinter sich läßt, so scheint
doch jener Gegenstand selbst ein genügender Träger derselben: sie verhält sich
also negativ gegen einige, aber nicht gegen ihr eigenes Gebilde. Die Negation
ist erst eine volle, wenn auch der Gegenstand, der im jeweiligen Falle der
erhabene Träger der Idee ist, trotz seiner Größe gegen sie verschwindet.
Innerhalb der allgemeinen Negativität des Erhabenen unterscheiden sich daher

ſondern wiefern es nicht iſt“; hiezu ſollte in demſelben Zuſammenhange
geſetzt ſeyn: wiefern es aber das Daſeyn des Allgemeinen in ſeiner
Einzelheit dennoch ebenſoſehr zugleich iſt. Denn wir ſind im Schönen;
hier iſt wirklich dieſes Einzelne weſentlich die Erſcheinung des Allge-
meinen und bleibt ſie auch in der Geſtalt der Erhabenheit. Weiße aber
geht, wie ſchon geſagt, auf dieſem Punkte über die äſthetiſche Sphäre
ganz hinaus in eine tranſcendente Welt, als deren Bruchſtück nun das
Erhabene die einzelne Erſcheinung hinſtelle. Das Wahre iſt vielmehr,
daß die Idee, wenn ſie im Erhabenen über das Einzelne hinausweist,
nicht in eine andere Welt, ſondern nur in ihre eigene hineinweist, in
welcher ſie das Einzelne als ihr Individuum, d. h. als das Indi-
viduum ihrer präſenten Gattung ebenſoſehr ſetzt als aufhebt. Die Idee
bleibt ganz Präſenz, aber die einzelne Präſenz derſelben weist über ſich
in die unendliche Präſenz hinein, in welcher aber mit allem Andern
eben auch die einzelne vorliegende Präſenz obwohl aufgehoben, doch
ebenſoſehr geſetzt iſt.

§. 85.

Die Bewegung des Erhabenen hat demnach ihren Grund zwar in dem1
qualitativen Verhältniſſe der Idee zum Bilde; allein es tritt nun ein neues
Verhältniß des äſthetiſchen Gegenſtands ein, nämlich ein Verhältniß zu um-
gebenden Gegenſtänden. Denn ſoll die Uebermacht der Idee in einem einzelnen
Gegenſtande angeſchaut werden, ſo müſſen andere neben ihm ſtehen, in welchem
Bild und Idee ſich im Gleichgewichte ruhiger Einheit befinden. Es macht ſich
alſo jetzt ein Größenbegriff geltend, das Qualitative wird quantitativ und der
Größenbegriff ſchließt ein Maßverhältniß in ſich, denn der erhabene Gegenſtand
ſoll nicht blos als groß, ſondern als ſchlechthin oder über alle Vergleichung
groß erſcheinen (Kant), und dies ſetzt ein meſſendes Vergleichen mit den um-
gebenden Gegenſtänden voraus. Allein wenn in dieſem Verhältniſſe die in dem2
ſchlechthin groß erſcheinenden Gegenſtande wirkende Idee zwar alles Umgebende
als ein gegen ihre Unendlichkeit Verſchwindendes hinter ſich läßt, ſo ſcheint
doch jener Gegenſtand ſelbſt ein genügender Träger derſelben: ſie verhält ſich
alſo negativ gegen einige, aber nicht gegen ihr eigenes Gebilde. Die Negation
iſt erſt eine volle, wenn auch der Gegenſtand, der im jeweiligen Falle der
erhabene Träger der Idee iſt, trotz ſeiner Größe gegen ſie verſchwindet.
Innerhalb der allgemeinen Negativität des Erhabenen unterſcheiden ſich daher

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[223/0237] ſondern wiefern es nicht iſt“; hiezu ſollte in demſelben Zuſammenhange geſetzt ſeyn: wiefern es aber das Daſeyn des Allgemeinen in ſeiner Einzelheit dennoch ebenſoſehr zugleich iſt. Denn wir ſind im Schönen; hier iſt wirklich dieſes Einzelne weſentlich die Erſcheinung des Allge- meinen und bleibt ſie auch in der Geſtalt der Erhabenheit. Weiße aber geht, wie ſchon geſagt, auf dieſem Punkte über die äſthetiſche Sphäre ganz hinaus in eine tranſcendente Welt, als deren Bruchſtück nun das Erhabene die einzelne Erſcheinung hinſtelle. Das Wahre iſt vielmehr, daß die Idee, wenn ſie im Erhabenen über das Einzelne hinausweist, nicht in eine andere Welt, ſondern nur in ihre eigene hineinweist, in welcher ſie das Einzelne als ihr Individuum, d. h. als das Indi- viduum ihrer präſenten Gattung ebenſoſehr ſetzt als aufhebt. Die Idee bleibt ganz Präſenz, aber die einzelne Präſenz derſelben weist über ſich in die unendliche Präſenz hinein, in welcher aber mit allem Andern eben auch die einzelne vorliegende Präſenz obwohl aufgehoben, doch ebenſoſehr geſetzt iſt. §. 85. Die Bewegung des Erhabenen hat demnach ihren Grund zwar in dem qualitativen Verhältniſſe der Idee zum Bilde; allein es tritt nun ein neues Verhältniß des äſthetiſchen Gegenſtands ein, nämlich ein Verhältniß zu um- gebenden Gegenſtänden. Denn ſoll die Uebermacht der Idee in einem einzelnen Gegenſtande angeſchaut werden, ſo müſſen andere neben ihm ſtehen, in welchem Bild und Idee ſich im Gleichgewichte ruhiger Einheit befinden. Es macht ſich alſo jetzt ein Größenbegriff geltend, das Qualitative wird quantitativ und der Größenbegriff ſchließt ein Maßverhältniß in ſich, denn der erhabene Gegenſtand ſoll nicht blos als groß, ſondern als ſchlechthin oder über alle Vergleichung groß erſcheinen (Kant), und dies ſetzt ein meſſendes Vergleichen mit den um- gebenden Gegenſtänden voraus. Allein wenn in dieſem Verhältniſſe die in dem ſchlechthin groß erſcheinenden Gegenſtande wirkende Idee zwar alles Umgebende als ein gegen ihre Unendlichkeit Verſchwindendes hinter ſich läßt, ſo ſcheint doch jener Gegenſtand ſelbſt ein genügender Träger derſelben: ſie verhält ſich alſo negativ gegen einige, aber nicht gegen ihr eigenes Gebilde. Die Negation iſt erſt eine volle, wenn auch der Gegenſtand, der im jeweiligen Falle der erhabene Träger der Idee iſt, trotz ſeiner Größe gegen ſie verſchwindet. Innerhalb der allgemeinen Negativität des Erhabenen unterſcheiden ſich daher

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/237>, abgerufen am 19.04.2024.