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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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weil er eine Anspannung der Kräfte durch Ideen ist, welche dem Gemüthe
einen Schwung geben, der weit mächtiger und dauerhafter wirkt, als der
Antrieb durch Sinnenvorstellungen. -- Ein jeder Affect von der wackern
Art (der nämlich das Bewußtseyn unserer Kräfte, jeden Widerstand zu
überwinden (animi strenul) rege macht) ist erhaben, z. B. der Zorn,
sogar die Verzweiflung (nämlich die entrüstete, nicht aber die verzagte)."
Allein freilich diese Anerkennung eines positiven Verhältnisses zwischen dem
Geiste und seiner Natur widersprach zu sehr dem Geiste der Kritik der
prakt. V., um furchtbar zu werden, sie verliert sich daher auch in eine
Anmerkung (nach §. 29) und wird durch die Zwischenbemerkung auf-
gehoben, daß jeder Affect blind sey und das Gemüth unvermögend mache,
sich nach freier Ueberlegung der Grundsätze zu bestimmen. Erst nachdem
die Ethik affirmativ geworden, konnte Hegel sagen, daß noch nichts
Großes ohne Leidenschaft geschehen sey. Es ist kein Grund vorhanden,
unter Leidenschaft blos habituelle Versenkung des Willens in ein Einzelnes
zu verstehen. Sie stand uns schon in §. 105 höher; jetzt aber hat sie einen
sittlichen Mittelpunkt, dessen Bote und Vollstrecker sie ist. Man denke
an den gewaltigen sittlichen Zorn großer Männer, z. B. eines Luther.
Für diesen Begriff hat Hegel den Ausdruck Pathos nach den Alten ein-
geführt. Er gebraucht das Wort gewöhnlich objectiv: "die allgemeinen
Mächte, welche nicht nur für sich in ihrer Selbständigkeit auftreten,
sondern ebensosehr in der Menschenbrust lebendig sind und das menschliche
Gemüth in seinem Innersten bewegen" (Aesth. 1, 297). Hegel will
den Ausdruck Leidenschaft vermeiden, weil er den Nebenbegriff des Nie-
drigen habe; er verdiente, wieder geadelt zu werden. Das Wort
Pathos läßt sich aber ebenso auch subjectiv gebrauchen: die Bewegung
des Gemüths aus einem sittlichen Mittelpunkte, die Persönlichkeit, für
ein sittliches Grundmotiv die ganze Erhabenheit der Kraft in sich auf-
bietend. Wir behalten uns einen Wechsel des objectiven und subjec-
tiven Gebrauchs vor.

§. 111.

Das Pathos kann als ruhende Kraft den Ausbruch drohen und nach dem
Ausbruch in drohende Stille zurückkehren. Diese Ruhe wirkt auch hier, als
negative Form in der positiven, stärker, als der Ausbruch, aber auf andere
und tiefere Weise, als die Ruhe im blos dynamisch Erhabenen. Während
nämlich hier (vergl. §. 99 und 101) der durch den Rückhalt verdoppelte Ein-

weil er eine Anſpannung der Kräfte durch Ideen iſt, welche dem Gemüthe
einen Schwung geben, der weit mächtiger und dauerhafter wirkt, als der
Antrieb durch Sinnenvorſtellungen. — Ein jeder Affect von der wackern
Art (der nämlich das Bewußtſeyn unſerer Kräfte, jeden Widerſtand zu
überwinden (animi strenul) rege macht) iſt erhaben, z. B. der Zorn,
ſogar die Verzweiflung (nämlich die entrüſtete, nicht aber die verzagte).“
Allein freilich dieſe Anerkennung eines poſitiven Verhältniſſes zwiſchen dem
Geiſte und ſeiner Natur widerſprach zu ſehr dem Geiſte der Kritik der
prakt. V., um furchtbar zu werden, ſie verliert ſich daher auch in eine
Anmerkung (nach §. 29) und wird durch die Zwiſchenbemerkung auf-
gehoben, daß jeder Affect blind ſey und das Gemüth unvermögend mache,
ſich nach freier Ueberlegung der Grundſätze zu beſtimmen. Erſt nachdem
die Ethik affirmativ geworden, konnte Hegel ſagen, daß noch nichts
Großes ohne Leidenſchaft geſchehen ſey. Es iſt kein Grund vorhanden,
unter Leidenſchaft blos habituelle Verſenkung des Willens in ein Einzelnes
zu verſtehen. Sie ſtand uns ſchon in §. 105 höher; jetzt aber hat ſie einen
ſittlichen Mittelpunkt, deſſen Bote und Vollſtrecker ſie iſt. Man denke
an den gewaltigen ſittlichen Zorn großer Männer, z. B. eines Luther.
Für dieſen Begriff hat Hegel den Ausdruck Pathos nach den Alten ein-
geführt. Er gebraucht das Wort gewöhnlich objectiv: „die allgemeinen
Mächte, welche nicht nur für ſich in ihrer Selbſtändigkeit auftreten,
ſondern ebenſoſehr in der Menſchenbruſt lebendig ſind und das menſchliche
Gemüth in ſeinem Innerſten bewegen“ (Aeſth. 1, 297). Hegel will
den Ausdruck Leidenſchaft vermeiden, weil er den Nebenbegriff des Nie-
drigen habe; er verdiente, wieder geadelt zu werden. Das Wort
Pathos läßt ſich aber ebenſo auch ſubjectiv gebrauchen: die Bewegung
des Gemüths aus einem ſittlichen Mittelpunkte, die Perſönlichkeit, für
ein ſittliches Grundmotiv die ganze Erhabenheit der Kraft in ſich auf-
bietend. Wir behalten uns einen Wechſel des objectiven und ſubjec-
tiven Gebrauchs vor.

§. 111.

Das Pathos kann als ruhende Kraft den Ausbruch drohen und nach dem
Ausbruch in drohende Stille zurückkehren. Dieſe Ruhe wirkt auch hier, als
negative Form in der poſitiven, ſtärker, als der Ausbruch, aber auf andere
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nämlich hier (vergl. §. 99 und 101) der durch den Rückhalt verdoppelte Ein-

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[267/0281] weil er eine Anſpannung der Kräfte durch Ideen iſt, welche dem Gemüthe einen Schwung geben, der weit mächtiger und dauerhafter wirkt, als der Antrieb durch Sinnenvorſtellungen. — Ein jeder Affect von der wackern Art (der nämlich das Bewußtſeyn unſerer Kräfte, jeden Widerſtand zu überwinden (animi strenul) rege macht) iſt erhaben, z. B. der Zorn, ſogar die Verzweiflung (nämlich die entrüſtete, nicht aber die verzagte).“ Allein freilich dieſe Anerkennung eines poſitiven Verhältniſſes zwiſchen dem Geiſte und ſeiner Natur widerſprach zu ſehr dem Geiſte der Kritik der prakt. V., um furchtbar zu werden, ſie verliert ſich daher auch in eine Anmerkung (nach §. 29) und wird durch die Zwiſchenbemerkung auf- gehoben, daß jeder Affect blind ſey und das Gemüth unvermögend mache, ſich nach freier Ueberlegung der Grundſätze zu beſtimmen. Erſt nachdem die Ethik affirmativ geworden, konnte Hegel ſagen, daß noch nichts Großes ohne Leidenſchaft geſchehen ſey. Es iſt kein Grund vorhanden, unter Leidenſchaft blos habituelle Verſenkung des Willens in ein Einzelnes zu verſtehen. Sie ſtand uns ſchon in §. 105 höher; jetzt aber hat ſie einen ſittlichen Mittelpunkt, deſſen Bote und Vollſtrecker ſie iſt. Man denke an den gewaltigen ſittlichen Zorn großer Männer, z. B. eines Luther. Für dieſen Begriff hat Hegel den Ausdruck Pathos nach den Alten ein- geführt. Er gebraucht das Wort gewöhnlich objectiv: „die allgemeinen Mächte, welche nicht nur für ſich in ihrer Selbſtändigkeit auftreten, ſondern ebenſoſehr in der Menſchenbruſt lebendig ſind und das menſchliche Gemüth in ſeinem Innerſten bewegen“ (Aeſth. 1, 297). Hegel will den Ausdruck Leidenſchaft vermeiden, weil er den Nebenbegriff des Nie- drigen habe; er verdiente, wieder geadelt zu werden. Das Wort Pathos läßt ſich aber ebenſo auch ſubjectiv gebrauchen: die Bewegung des Gemüths aus einem ſittlichen Mittelpunkte, die Perſönlichkeit, für ein ſittliches Grundmotiv die ganze Erhabenheit der Kraft in ſich auf- bietend. Wir behalten uns einen Wechſel des objectiven und ſubjec- tiven Gebrauchs vor. §. 111. Das Pathos kann als ruhende Kraft den Ausbruch drohen und nach dem Ausbruch in drohende Stille zurückkehren. Dieſe Ruhe wirkt auch hier, als negative Form in der poſitiven, ſtärker, als der Ausbruch, aber auf andere und tiefere Weiſe, als die Ruhe im blos dynamiſch Erhabenen. Während nämlich hier (vergl. §. 99 und 101) der durch den Rückhalt verdoppelte Ein-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/281>, abgerufen am 29.03.2024.