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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Es gibt aber noch einen andern Fall der Zulässigkeit. Das Zweckmäßige
kann ganz als bloses Mittel erscheinen, aber in den Fluß der geistigen
Selbstzwecke so glücklich eingreifen, daß es als ein Besonderes für sich,
d. h. als ein Prosaisches, sich gar nicht in der Anschauung fixirt. Die
angedeuteten Bedingungen gelten für diesen Fall in eingeschränkterem
Sinne. Der Geist mag das äußerlich Zweckmäßige in der kürzesten
Zeit und in sparsamer Form abthun; treten nur seine absoluten Zwecke
gehörig in die Anschauung, so wird mit dieser jenes Unselbständige,
wenn es nur leicht geht und gelingt, in Ein Bild ohne Anstoß aufge-
nommen, und dieses Eine Bild ist das Bild des höchsten Gutes, worin
der innere und äußere Zweck, Tugend und Glückseligkeit harmoniren.

3. Kant Kr. d. ästh. Urtheilskr. §. 16 stellt den wichtigen Unter-
schied der freien und anhängenden Schönheit auf, gibt aber mehrere
falsche Beispiele. Das blos Dienende wird ästhetisch, wenn es so
behandelt wird, daß es frei und selbständig erscheint. Ein in diesem
Sinne behandeltes Geräthe z. B. wird gleichsam persönlich, gehört zur
Familie, scheint die Seele des Gebrauchenden in sich aufgenommen zu
haben. Der Geist legt seine Unendlichkeit in den blos endlichen (die-
nenden) Gegenstand und zeigt dies durch Entfaltung an sich überflüßiger,
doch wohl motivirter Formen, wodurch die gerade Linie, welche als
den kürzesten Weg zum Ziele das Bedürfniß nimmt, in eine spielende
verwandelt wird. Das Nähere gehört zur Formfrage. Ihre ganze
Wichtigkeit erhält diese Unterscheidung in der Lehre von der Kunst.

§. 24.

1

Ueber dieser Grundlage erhebt sich die Welt der sittlichen oder der Selbst-
zwecke, welche den bedeutendsten Inhalt des Schönen abzugeben bestimmt sind.
Dieser höchste Inhalt der Idee nun oder das Gute ist aber so wenig als irgend
eine andere Stufe der Idee auf einem bestimmten Punkte des Raumes und der
2Zeit absolut verwirklicht. Da nun das Schöne die Idee gerade als in die-
sem Sinne verwirklicht zur unmittelbaren Anschauung bringen soll, so ist
hier eigentlich die Stelle, wo der gegenständliche Inhalt des Schönen, worin
es mit der Idee zusammenfällt, geschlossen ist und die Darstellung des Unter-
3schieds zwiscken beiden zu beginnen hat. Ehe jedoch dieser Uebergang eintritt,
scheint noch ein höherer Inhalt eingeführt werden zu müssen, eben um begreiflich
zu machen, wie das Schöne jene Wirklichkeit als eine vollendete zur Anschauung

Es gibt aber noch einen andern Fall der Zuläſſigkeit. Das Zweckmäßige
kann ganz als bloſes Mittel erſcheinen, aber in den Fluß der geiſtigen
Selbſtzwecke ſo glücklich eingreifen, daß es als ein Beſonderes für ſich,
d. h. als ein Proſaiſches, ſich gar nicht in der Anſchauung fixirt. Die
angedeuteten Bedingungen gelten für dieſen Fall in eingeſchränkterem
Sinne. Der Geiſt mag das äußerlich Zweckmäßige in der kürzeſten
Zeit und in ſparſamer Form abthun; treten nur ſeine abſoluten Zwecke
gehörig in die Anſchauung, ſo wird mit dieſer jenes Unſelbſtändige,
wenn es nur leicht geht und gelingt, in Ein Bild ohne Anſtoß aufge-
nommen, und dieſes Eine Bild iſt das Bild des höchſten Gutes, worin
der innere und äußere Zweck, Tugend und Glückſeligkeit harmoniren.

3. Kant Kr. d. äſth. Urtheilskr. §. 16 ſtellt den wichtigen Unter-
ſchied der freien und anhängenden Schönheit auf, gibt aber mehrere
falſche Beiſpiele. Das blos Dienende wird äſthetiſch, wenn es ſo
behandelt wird, daß es frei und ſelbſtändig erſcheint. Ein in dieſem
Sinne behandeltes Geräthe z. B. wird gleichſam perſönlich, gehört zur
Familie, ſcheint die Seele des Gebrauchenden in ſich aufgenommen zu
haben. Der Geiſt legt ſeine Unendlichkeit in den blos endlichen (die-
nenden) Gegenſtand und zeigt dies durch Entfaltung an ſich überflüßiger,
doch wohl motivirter Formen, wodurch die gerade Linie, welche als
den kürzeſten Weg zum Ziele das Bedürfniß nimmt, in eine ſpielende
verwandelt wird. Das Nähere gehört zur Formfrage. Ihre ganze
Wichtigkeit erhält dieſe Unterſcheidung in der Lehre von der Kunſt.

§. 24.

1

Ueber dieſer Grundlage erhebt ſich die Welt der ſittlichen oder der Selbſt-
zwecke, welche den bedeutendſten Inhalt des Schönen abzugeben beſtimmt ſind.
Dieſer höchſte Inhalt der Idee nun oder das Gute iſt aber ſo wenig als irgend
eine andere Stufe der Idee auf einem beſtimmten Punkte des Raumes und der
2Zeit abſolut verwirklicht. Da nun das Schöne die Idee gerade als in die-
ſem Sinne verwirklicht zur unmittelbaren Anſchauung bringen ſoll, ſo iſt
hier eigentlich die Stelle, wo der gegenſtändliche Inhalt des Schönen, worin
es mit der Idee zuſammenfällt, geſchloſſen iſt und die Darſtellung des Unter-
3ſchieds zwiſcken beiden zu beginnen hat. Ehe jedoch dieſer Uebergang eintritt,
ſcheint noch ein höherer Inhalt eingeführt werden zu müſſen, eben um begreiflich
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[80/0094] Es gibt aber noch einen andern Fall der Zuläſſigkeit. Das Zweckmäßige kann ganz als bloſes Mittel erſcheinen, aber in den Fluß der geiſtigen Selbſtzwecke ſo glücklich eingreifen, daß es als ein Beſonderes für ſich, d. h. als ein Proſaiſches, ſich gar nicht in der Anſchauung fixirt. Die angedeuteten Bedingungen gelten für dieſen Fall in eingeſchränkterem Sinne. Der Geiſt mag das äußerlich Zweckmäßige in der kürzeſten Zeit und in ſparſamer Form abthun; treten nur ſeine abſoluten Zwecke gehörig in die Anſchauung, ſo wird mit dieſer jenes Unſelbſtändige, wenn es nur leicht geht und gelingt, in Ein Bild ohne Anſtoß aufge- nommen, und dieſes Eine Bild iſt das Bild des höchſten Gutes, worin der innere und äußere Zweck, Tugend und Glückſeligkeit harmoniren. 3. Kant Kr. d. äſth. Urtheilskr. §. 16 ſtellt den wichtigen Unter- ſchied der freien und anhängenden Schönheit auf, gibt aber mehrere falſche Beiſpiele. Das blos Dienende wird äſthetiſch, wenn es ſo behandelt wird, daß es frei und ſelbſtändig erſcheint. Ein in dieſem Sinne behandeltes Geräthe z. B. wird gleichſam perſönlich, gehört zur Familie, ſcheint die Seele des Gebrauchenden in ſich aufgenommen zu haben. Der Geiſt legt ſeine Unendlichkeit in den blos endlichen (die- nenden) Gegenſtand und zeigt dies durch Entfaltung an ſich überflüßiger, doch wohl motivirter Formen, wodurch die gerade Linie, welche als den kürzeſten Weg zum Ziele das Bedürfniß nimmt, in eine ſpielende verwandelt wird. Das Nähere gehört zur Formfrage. Ihre ganze Wichtigkeit erhält dieſe Unterſcheidung in der Lehre von der Kunſt. §. 24. Ueber dieſer Grundlage erhebt ſich die Welt der ſittlichen oder der Selbſt- zwecke, welche den bedeutendſten Inhalt des Schönen abzugeben beſtimmt ſind. Dieſer höchſte Inhalt der Idee nun oder das Gute iſt aber ſo wenig als irgend eine andere Stufe der Idee auf einem beſtimmten Punkte des Raumes und der Zeit abſolut verwirklicht. Da nun das Schöne die Idee gerade als in die- ſem Sinne verwirklicht zur unmittelbaren Anſchauung bringen ſoll, ſo iſt hier eigentlich die Stelle, wo der gegenſtändliche Inhalt des Schönen, worin es mit der Idee zuſammenfällt, geſchloſſen iſt und die Darſtellung des Unter- ſchieds zwiſcken beiden zu beginnen hat. Ehe jedoch dieſer Uebergang eintritt, ſcheint noch ein höherer Inhalt eingeführt werden zu müſſen, eben um begreiflich zu machen, wie das Schöne jene Wirklichkeit als eine vollendete zur Anſchauung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/94>, abgerufen am 25.04.2024.