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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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die Einbildungskraft dem Verstande den Zweckbegriff zuschiebt, der in
einer harmonischen Naturerscheinung anklingt, dieser aber, weil kein be-
stimmter Zweckbegriff gedacht werden kann, ihn der Einbildungskraft
zurückschiebt, so läßt Schiller den ganzen Dualismus von Geist und Natur
im Schönen, das zugleich sinnlich und unsinnlich, zufällig und nothwendig
ist, sich auflösen. Aber für diese Höhe genügt der Begriff des Spiels
nicht mehr. Das Spiel erzeugt den oben dargestellten Schein, aber es
erzeugt nicht den reinen Schein, d. h. es stellt dar, was nicht da ist,
indem es den vom Durchschnitt getrennten Aufriß der Erscheinungen
nachahmt, aber es tilgt in der nachgeahmten Gestalt nicht die Mängel
des Naturschönen, es fehlt ihm die Idealität. Daher täuscht der Spie-
lende zwar nicht sich selbst, aber er erfreut sich daran, den Zuschauer in
die gemeine Täuschung zu versetzen, als wäre die Sache selbst da, nicht be-
zweckt er den "aufrichtigen" Schein des Schönen, der "weder Realität
vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht." Kein
Sprachgebrauch berechtigt dazu, jene erhabene Illusion, welche nicht
Realität lügt und doch die Wahrheit aller Realität ins Gemüth senkt,
unter den Begriff des Spiels da zu befaßen, wo es auf wissenschaftlich
genaue Bestimmung ankommt.

§. 516.

Die Fertigkeit in der Beherrschung des Materials, welche durch das
Handwerk und das Spiel erworben wird, gibt sich zuerst in einzelnen Grund-
sätzen Rechenschaft von den Gesetzen des Naturstoffs und seiner Behandlung,
welche sich, indem von anderer Seite der reine Erkenntnißtrieb diese Gebiete
betritt, allmählich zu Wissenschaften erweitern, die nun ebenfalls der
künstlerischen Technik als Vorarbeit und Hülfsmittel zu dienen bestimmt sind.

Auch das Spiel muß als Ausgangspunct eines Bewußtseins über
technische Regeln aufgeführt werden, denn, anfangs rein willkührlich,
ordner und organisirt es sich mit der Zeit: das verschönernde verbindet
sich mit dem Handwerk und es entstehen höhere, feinere Gewerke, die
natürlich ihre Regeln haben; das subjectiv nachahmende bildet sich als
Tarz, Mimik u. s. w. einen Rhythmus, ein Gesetz, das objectiv nach-
ahnende macht Erfahrungen über Material, Werkzeug und seine Hand-
habung, worin es natürlich auch vom Handwerk lernt. Zugleich ist aber
der Erkenntnißtrieb in seinem eigenen Interesse thätig, die Natur der
Dinge und die Gesetze der menschlichen Thätigkeit zu erforschen, und auf
diesen verschiedenen Wegen entstehen die Wissenschaften, welche nachher
Bedingungen der künstlerischen Technik werden. Natürlich arbeitet übrigens

die Einbildungskraft dem Verſtande den Zweckbegriff zuſchiebt, der in
einer harmoniſchen Naturerſcheinung anklingt, dieſer aber, weil kein be-
ſtimmter Zweckbegriff gedacht werden kann, ihn der Einbildungskraft
zurückſchiebt, ſo läßt Schiller den ganzen Dualiſmus von Geiſt und Natur
im Schönen, das zugleich ſinnlich und unſinnlich, zufällig und nothwendig
iſt, ſich auflöſen. Aber für dieſe Höhe genügt der Begriff des Spiels
nicht mehr. Das Spiel erzeugt den oben dargeſtellten Schein, aber es
erzeugt nicht den reinen Schein, d. h. es ſtellt dar, was nicht da iſt,
indem es den vom Durchſchnitt getrennten Aufriß der Erſcheinungen
nachahmt, aber es tilgt in der nachgeahmten Geſtalt nicht die Mängel
des Naturſchönen, es fehlt ihm die Idealität. Daher täuſcht der Spie-
lende zwar nicht ſich ſelbſt, aber er erfreut ſich daran, den Zuſchauer in
die gemeine Täuſchung zu verſetzen, als wäre die Sache ſelbſt da, nicht be-
zweckt er den „aufrichtigen“ Schein des Schönen, der „weder Realität
vertreten will, noch von derſelben vertreten zu werden braucht.“ Kein
Sprachgebrauch berechtigt dazu, jene erhabene Illuſion, welche nicht
Realität lügt und doch die Wahrheit aller Realität ins Gemüth ſenkt,
unter den Begriff des Spiels da zu befaßen, wo es auf wiſſenſchaftlich
genaue Beſtimmung ankommt.

§. 516.

Die Fertigkeit in der Beherrſchung des Materials, welche durch das
Handwerk und das Spiel erworben wird, gibt ſich zuerſt in einzelnen Grund-
ſätzen Rechenſchaft von den Geſetzen des Naturſtoffs und ſeiner Behandlung,
welche ſich, indem von anderer Seite der reine Erkenntnißtrieb dieſe Gebiete
betritt, allmählich zu Wiſſenſchaften erweitern, die nun ebenfalls der
künſtleriſchen Technik als Vorarbeit und Hülfsmittel zu dienen beſtimmt ſind.

Auch das Spiel muß als Ausgangspunct eines Bewußtſeins über
techniſche Regeln aufgeführt werden, denn, anfangs rein willkührlich,
ordner und organiſirt es ſich mit der Zeit: das verſchönernde verbindet
ſich mit dem Handwerk und es entſtehen höhere, feinere Gewerke, die
natürlich ihre Regeln haben; das ſubjectiv nachahmende bildet ſich als
Tarz, Mimik u. ſ. w. einen Rhythmus, ein Geſetz, das objectiv nach-
ahnende macht Erfahrungen über Material, Werkzeug und ſeine Hand-
habung, worin es natürlich auch vom Handwerk lernt. Zugleich iſt aber
der Erkenntnißtrieb in ſeinem eigenen Intereſſe thätig, die Natur der
Dinge und die Geſetze der menſchlichen Thätigkeit zu erforſchen, und auf
dieſen verſchiedenen Wegen entſtehen die Wiſſenſchaften, welche nachher
Bedingungen der künſtleriſchen Technik werden. Natürlich arbeitet übrigens

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[94/0106] die Einbildungskraft dem Verſtande den Zweckbegriff zuſchiebt, der in einer harmoniſchen Naturerſcheinung anklingt, dieſer aber, weil kein be- ſtimmter Zweckbegriff gedacht werden kann, ihn der Einbildungskraft zurückſchiebt, ſo läßt Schiller den ganzen Dualiſmus von Geiſt und Natur im Schönen, das zugleich ſinnlich und unſinnlich, zufällig und nothwendig iſt, ſich auflöſen. Aber für dieſe Höhe genügt der Begriff des Spiels nicht mehr. Das Spiel erzeugt den oben dargeſtellten Schein, aber es erzeugt nicht den reinen Schein, d. h. es ſtellt dar, was nicht da iſt, indem es den vom Durchſchnitt getrennten Aufriß der Erſcheinungen nachahmt, aber es tilgt in der nachgeahmten Geſtalt nicht die Mängel des Naturſchönen, es fehlt ihm die Idealität. Daher täuſcht der Spie- lende zwar nicht ſich ſelbſt, aber er erfreut ſich daran, den Zuſchauer in die gemeine Täuſchung zu verſetzen, als wäre die Sache ſelbſt da, nicht be- zweckt er den „aufrichtigen“ Schein des Schönen, der „weder Realität vertreten will, noch von derſelben vertreten zu werden braucht.“ Kein Sprachgebrauch berechtigt dazu, jene erhabene Illuſion, welche nicht Realität lügt und doch die Wahrheit aller Realität ins Gemüth ſenkt, unter den Begriff des Spiels da zu befaßen, wo es auf wiſſenſchaftlich genaue Beſtimmung ankommt. §. 516. Die Fertigkeit in der Beherrſchung des Materials, welche durch das Handwerk und das Spiel erworben wird, gibt ſich zuerſt in einzelnen Grund- ſätzen Rechenſchaft von den Geſetzen des Naturſtoffs und ſeiner Behandlung, welche ſich, indem von anderer Seite der reine Erkenntnißtrieb dieſe Gebiete betritt, allmählich zu Wiſſenſchaften erweitern, die nun ebenfalls der künſtleriſchen Technik als Vorarbeit und Hülfsmittel zu dienen beſtimmt ſind. Auch das Spiel muß als Ausgangspunct eines Bewußtſeins über techniſche Regeln aufgeführt werden, denn, anfangs rein willkührlich, ordner und organiſirt es ſich mit der Zeit: das verſchönernde verbindet ſich mit dem Handwerk und es entſtehen höhere, feinere Gewerke, die natürlich ihre Regeln haben; das ſubjectiv nachahmende bildet ſich als Tarz, Mimik u. ſ. w. einen Rhythmus, ein Geſetz, das objectiv nach- ahnende macht Erfahrungen über Material, Werkzeug und ſeine Hand- habung, worin es natürlich auch vom Handwerk lernt. Zugleich iſt aber der Erkenntnißtrieb in ſeinem eigenen Intereſſe thätig, die Natur der Dinge und die Geſetze der menſchlichen Thätigkeit zu erforſchen, und auf dieſen verſchiedenen Wegen entſtehen die Wiſſenſchaften, welche nachher Bedingungen der künſtleriſchen Technik werden. Natürlich arbeitet übrigens

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/106>, abgerufen am 29.03.2024.