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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Grunde einen Styl nennen; in der späteren deutschen Poesie ist Heine
ganz Manierist, doch kann man den Ausdruck Styl selbst mit der in ihm
liegenden Intensität soweit auf ihn anwenden, als er eine blasirte Zeit
ganz objectiv getreu darstellt.

3.
Der Styl als Ausdruck des geschichtlichen Ideals.
§. 530.

Der Kreis dehnt sich noch weiter aus: Styl (und Manier), von Volk
an Volk mitgetheilt und von der vorbereiteten entsprechenden Stimmung auf-
genommen, erhält die allgemeinere Bedeutung, als Ausdruck des Geistes
einer ganzen Völkergruppe, ja aller gebildeten Völker auf einer bestimmten
geschichtlichen Stufe der Weltanschauung zu erscheinen; d. h. die verschiedenen
Gestaltungen des Ideals (§. 416--484) verkörpern sich in stehenden technischen
Formen und die Geschichte des Ideals heißt nunmehr Geschichte der Style
(und Manieren).

Während man sonst die verschiedenen Bedeutungen des Styls durch-
einanderwirft, entsieht uns eine aus der andern und so hat sich der
Begriff nun erweitert zu der Bedeutung, die dem Ausdruck: classischer,
romantischer Styl u. s. w. zu Grunde liegt. Auch hier ist aber zunächst
die pragmatische Vermittlung nicht zu übersehen: die Völker theilen sich
ihre Style mit und die Mittheilung fällt auf um so fruchtbareren Boden,
je verwandter sie sind. Zunächst werden also stamm- und bildungs-
verwandte Völker am meisten aufeinander einwirken. So hat die englische
Dichtung stärkere Beiträge zur Entstehung der classischen Poesie der Deutschen
gegeben, als irgend eine neuere; so haben die romanischen Völker einander rasch
das erneuerte Classische, den individualitätsloseren Styl der flüssigen Form
mitgetheilt; im Norden von Frankreich, wo mehr deutsches Blut ist, hat
die germanische Baukunst tiefer Wurzel geschlagen, als in Italien. Aber
große, weltbezwingende Zeit-Anschauungen greifen selbst über die vollsten
Gegensätze zwischen Völkern und Völkergruppen und schaffen den Styl,
der ganze Weltalter charakterisirt. Im Mittelalter sind die Elemente des
Arabischen und Keltischen, weil sie seiner phantastischen Anschauung zusagten,
trotz ihrer Fremdheit durch alle europäischen Länder gedrungen; daß der
gothische Baustyl in Italien, wo er nie organisch anwachsen konnte, dennoch
unaufhaltsam eindrang, beweist nur um so mehr die Macht einer solchen
Kunstform. Während das Antike allen romanischen Völkern näher liegt,
dem deutschen Geiste aber zunächst ganz fremdartig gegenübertrat, hat sich

Grunde einen Styl nennen; in der ſpäteren deutſchen Poeſie iſt Heine
ganz Manieriſt, doch kann man den Ausdruck Styl ſelbſt mit der in ihm
liegenden Intenſität ſoweit auf ihn anwenden, als er eine blaſirte Zeit
ganz objectiv getreu darſtellt.

3.
Der Styl als Ausdruck des geſchichtlichen Ideals.
§. 530.

Der Kreis dehnt ſich noch weiter aus: Styl (und Manier), von Volk
an Volk mitgetheilt und von der vorbereiteten entſprechenden Stimmung auf-
genommen, erhält die allgemeinere Bedeutung, als Ausdruck des Geiſtes
einer ganzen Völkergruppe, ja aller gebildeten Völker auf einer beſtimmten
geſchichtlichen Stufe der Weltanſchauung zu erſcheinen; d. h. die verſchiedenen
Geſtaltungen des Ideals (§. 416—484) verkörpern ſich in ſtehenden techniſchen
Formen und die Geſchichte des Ideals heißt nunmehr Geſchichte der Style
(und Manieren).

Während man ſonſt die verſchiedenen Bedeutungen des Styls durch-
einanderwirft, entſieht uns eine aus der andern und ſo hat ſich der
Begriff nun erweitert zu der Bedeutung, die dem Ausdruck: claſſiſcher,
romantiſcher Styl u. ſ. w. zu Grunde liegt. Auch hier iſt aber zunächſt
die pragmatiſche Vermittlung nicht zu überſehen: die Völker theilen ſich
ihre Style mit und die Mittheilung fällt auf um ſo fruchtbareren Boden,
je verwandter ſie ſind. Zunächſt werden alſo ſtamm- und bildungs-
verwandte Völker am meiſten aufeinander einwirken. So hat die engliſche
Dichtung ſtärkere Beiträge zur Entſtehung der claſſiſchen Poeſie der Deutſchen
gegeben, als irgend eine neuere; ſo haben die romaniſchen Völker einander raſch
das erneuerte Claſſiſche, den individualitätsloſeren Styl der flüſſigen Form
mitgetheilt; im Norden von Frankreich, wo mehr deutſches Blut iſt, hat
die germaniſche Baukunſt tiefer Wurzel geſchlagen, als in Italien. Aber
große, weltbezwingende Zeit-Anſchauungen greifen ſelbſt über die vollſten
Gegenſätze zwiſchen Völkern und Völkergruppen und ſchaffen den Styl,
der ganze Weltalter charakteriſirt. Im Mittelalter ſind die Elemente des
Arabiſchen und Keltiſchen, weil ſie ſeiner phantaſtiſchen Anſchauung zuſagten,
trotz ihrer Fremdheit durch alle europäiſchen Länder gedrungen; daß der
gothiſche Bauſtyl in Italien, wo er nie organiſch anwachſen konnte, dennoch
unaufhaltſam eindrang, beweist nur um ſo mehr die Macht einer ſolchen
Kunſtform. Während das Antike allen romaniſchen Völkern näher liegt,
dem deutſchen Geiſte aber zunächſt ganz fremdartig gegenübertrat, hat ſich

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[133/0145] Grunde einen Styl nennen; in der ſpäteren deutſchen Poeſie iſt Heine ganz Manieriſt, doch kann man den Ausdruck Styl ſelbſt mit der in ihm liegenden Intenſität ſoweit auf ihn anwenden, als er eine blaſirte Zeit ganz objectiv getreu darſtellt. 3. Der Styl als Ausdruck des geſchichtlichen Ideals. §. 530. Der Kreis dehnt ſich noch weiter aus: Styl (und Manier), von Volk an Volk mitgetheilt und von der vorbereiteten entſprechenden Stimmung auf- genommen, erhält die allgemeinere Bedeutung, als Ausdruck des Geiſtes einer ganzen Völkergruppe, ja aller gebildeten Völker auf einer beſtimmten geſchichtlichen Stufe der Weltanſchauung zu erſcheinen; d. h. die verſchiedenen Geſtaltungen des Ideals (§. 416—484) verkörpern ſich in ſtehenden techniſchen Formen und die Geſchichte des Ideals heißt nunmehr Geſchichte der Style (und Manieren). Während man ſonſt die verſchiedenen Bedeutungen des Styls durch- einanderwirft, entſieht uns eine aus der andern und ſo hat ſich der Begriff nun erweitert zu der Bedeutung, die dem Ausdruck: claſſiſcher, romantiſcher Styl u. ſ. w. zu Grunde liegt. Auch hier iſt aber zunächſt die pragmatiſche Vermittlung nicht zu überſehen: die Völker theilen ſich ihre Style mit und die Mittheilung fällt auf um ſo fruchtbareren Boden, je verwandter ſie ſind. Zunächſt werden alſo ſtamm- und bildungs- verwandte Völker am meiſten aufeinander einwirken. So hat die engliſche Dichtung ſtärkere Beiträge zur Entſtehung der claſſiſchen Poeſie der Deutſchen gegeben, als irgend eine neuere; ſo haben die romaniſchen Völker einander raſch das erneuerte Claſſiſche, den individualitätsloſeren Styl der flüſſigen Form mitgetheilt; im Norden von Frankreich, wo mehr deutſches Blut iſt, hat die germaniſche Baukunſt tiefer Wurzel geſchlagen, als in Italien. Aber große, weltbezwingende Zeit-Anſchauungen greifen ſelbſt über die vollſten Gegenſätze zwiſchen Völkern und Völkergruppen und ſchaffen den Styl, der ganze Weltalter charakteriſirt. Im Mittelalter ſind die Elemente des Arabiſchen und Keltiſchen, weil ſie ſeiner phantaſtiſchen Anſchauung zuſagten, trotz ihrer Fremdheit durch alle europäiſchen Länder gedrungen; daß der gothiſche Bauſtyl in Italien, wo er nie organiſch anwachſen konnte, dennoch unaufhaltſam eindrang, beweist nur um ſo mehr die Macht einer ſolchen Kunſtform. Während das Antike allen romaniſchen Völkern näher liegt, dem deutſchen Geiſte aber zunächſt ganz fremdartig gegenübertrat, hat ſich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/145>, abgerufen am 29.03.2024.