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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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§. 498.

1

Diese ordnende Thätigkeit decht nothwendig zugleich den weitern Mangel
auf, daß es dem Einzelnen des innerlich entworfenen Ganzen an der strengen
Sonderung fehlt, auf welcher die wahre Einheit ruht: ein unbestimmtes
Ineinanderlaufen, worin theils das Einzelne überhaupt noch nicht seinen rechten
Ort einnimmt, theils das richtig Aufgestellte nicht, wie es soll, voneinander
absticht. Hier tritt das Compositionsgesetz der Scheidung ein, welchem ebenfalls
durch einen Act des Messens genügt wird, der zugleich ein erweitertes Schaffen
2ist. Dasselbe verlangt überhaupt ein klares Auseinanderrücken und Auseinander-
halten, bestimmter die gegenseitige Hebung der Einzelbilder durch den Contrast
sowohl des Unterschieds, als auch des Gegensatzes.

1. Die Bestimmung des Werthverhältnißes der Theile ist natürlich
nicht möglich, wenn diese nicht scharf und klar sich voneinander abheben;
also ist in dem zuletzt aufgeführten Compositionsgesetze das nun auftretende
vorausgesetzt. Solche Voraussetzungen sind aber unvermeidlich, und so
hier: nur wenn die scheidende Thätigkeit an der gegenwärtigen Stelle
eingeführt wird, ist der organische Fortgang der Begriffe möglich, der
uns von da weiter zu den letzten und höchsten Compositionsgesetzen zu
führen hat. -- Indem nun die Composition zunächst als ein Scheiden
auftritt, wäre sie auf diesem Puncte eigentlich Disposition zu nennen.
Das innere Bild kann der nunmehr aufgestellten Forderung unmöglich
genügen: denn versetzt in den innern Bildersaal des Geistes wird die
Erscheinung in jenen Wurf und Hauch der Allgemeinheit gezogen, den
der Geist allen seinen blos innern Gebilden gibt: die Grenzen der Theile
oder Glieder verschwimmen. So können wir von einem Angesicht eine
den Grundcharakter desselben ganz bestimmt festhaltende innere Vorstellung
haben, ohne daß wir doch die Farbe des Auges, die Zeichnung der Nase,
Lippen anzugeben wüßten; die Wirkung, die dadurch entsteht, daß diese
Theile durch diese Farbe, Gestalt, Licht und Schatten sich so und so
voneinander abheben, ist uns gegenwärtig, aber die Ursachen verschweben
ins Unbestimmte. Geht man mehr ins Große, so ist der Mangel ein
noch gröberer: das innere Bild einer Landschaft, einer Scene, worin
Menschen handeln, einer Tonmasse, worin eine Empfindung ihre
verschiedenen Momente entfaltet, wird bei näherer Prüfung sich nicht nur
in dem Sinne als unverarbeitet zeigen, daß das Einzelne ineinander
zerfließt, sondern daß ganze Theile einen unpassenden Ort einnehmen;
da muß jener Fels herüber zu diesem Baum, mit dem er einen schönen
Contrast bildet, während er sonst nur stört, jene Figuren müßen

§. 498.

1

Dieſe ordnende Thätigkeit decht nothwendig zugleich den weitern Mangel
auf, daß es dem Einzelnen des innerlich entworfenen Ganzen an der ſtrengen
Sonderung fehlt, auf welcher die wahre Einheit ruht: ein unbeſtimmtes
Ineinanderlaufen, worin theils das Einzelne überhaupt noch nicht ſeinen rechten
Ort einnimmt, theils das richtig Aufgeſtellte nicht, wie es ſoll, voneinander
abſticht. Hier tritt das Compoſitionsgeſetz der Scheidung ein, welchem ebenfalls
durch einen Act des Meſſens genügt wird, der zugleich ein erweitertes Schaffen
2iſt. Daſſelbe verlangt überhaupt ein klares Auseinanderrücken und Auseinander-
halten, beſtimmter die gegenſeitige Hebung der Einzelbilder durch den Contraſt
ſowohl des Unterſchieds, als auch des Gegenſatzes.

1. Die Beſtimmung des Werthverhältnißes der Theile iſt natürlich
nicht möglich, wenn dieſe nicht ſcharf und klar ſich voneinander abheben;
alſo iſt in dem zuletzt aufgeführten Compoſitionsgeſetze das nun auftretende
vorausgeſetzt. Solche Vorausſetzungen ſind aber unvermeidlich, und ſo
hier: nur wenn die ſcheidende Thätigkeit an der gegenwärtigen Stelle
eingeführt wird, iſt der organiſche Fortgang der Begriffe möglich, der
uns von da weiter zu den letzten und höchſten Compoſitionsgeſetzen zu
führen hat. — Indem nun die Compoſition zunächſt als ein Scheiden
auftritt, wäre ſie auf dieſem Puncte eigentlich Diſpoſition zu nennen.
Das innere Bild kann der nunmehr aufgeſtellten Forderung unmöglich
genügen: denn verſetzt in den innern Bilderſaal des Geiſtes wird die
Erſcheinung in jenen Wurf und Hauch der Allgemeinheit gezogen, den
der Geiſt allen ſeinen blos innern Gebilden gibt: die Grenzen der Theile
oder Glieder verſchwimmen. So können wir von einem Angeſicht eine
den Grundcharakter deſſelben ganz beſtimmt feſthaltende innere Vorſtellung
haben, ohne daß wir doch die Farbe des Auges, die Zeichnung der Naſe,
Lippen anzugeben wüßten; die Wirkung, die dadurch entſteht, daß dieſe
Theile durch dieſe Farbe, Geſtalt, Licht und Schatten ſich ſo und ſo
voneinander abheben, iſt uns gegenwärtig, aber die Urſachen verſchweben
ins Unbeſtimmte. Geht man mehr ins Große, ſo iſt der Mangel ein
noch gröberer: das innere Bild einer Landſchaft, einer Scene, worin
Menſchen handeln, einer Tonmaſſe, worin eine Empfindung ihre
verſchiedenen Momente entfaltet, wird bei näherer Prüfung ſich nicht nur
in dem Sinne als unverarbeitet zeigen, daß das Einzelne ineinander
zerfließt, ſondern daß ganze Theile einen unpaſſenden Ort einnehmen;
da muß jener Fels herüber zu dieſem Baum, mit dem er einen ſchönen
Contraſt bildet, während er ſonſt nur ſtört, jene Figuren müßen

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[32/0044] §. 498. Dieſe ordnende Thätigkeit decht nothwendig zugleich den weitern Mangel auf, daß es dem Einzelnen des innerlich entworfenen Ganzen an der ſtrengen Sonderung fehlt, auf welcher die wahre Einheit ruht: ein unbeſtimmtes Ineinanderlaufen, worin theils das Einzelne überhaupt noch nicht ſeinen rechten Ort einnimmt, theils das richtig Aufgeſtellte nicht, wie es ſoll, voneinander abſticht. Hier tritt das Compoſitionsgeſetz der Scheidung ein, welchem ebenfalls durch einen Act des Meſſens genügt wird, der zugleich ein erweitertes Schaffen iſt. Daſſelbe verlangt überhaupt ein klares Auseinanderrücken und Auseinander- halten, beſtimmter die gegenſeitige Hebung der Einzelbilder durch den Contraſt ſowohl des Unterſchieds, als auch des Gegenſatzes. 1. Die Beſtimmung des Werthverhältnißes der Theile iſt natürlich nicht möglich, wenn dieſe nicht ſcharf und klar ſich voneinander abheben; alſo iſt in dem zuletzt aufgeführten Compoſitionsgeſetze das nun auftretende vorausgeſetzt. Solche Vorausſetzungen ſind aber unvermeidlich, und ſo hier: nur wenn die ſcheidende Thätigkeit an der gegenwärtigen Stelle eingeführt wird, iſt der organiſche Fortgang der Begriffe möglich, der uns von da weiter zu den letzten und höchſten Compoſitionsgeſetzen zu führen hat. — Indem nun die Compoſition zunächſt als ein Scheiden auftritt, wäre ſie auf dieſem Puncte eigentlich Diſpoſition zu nennen. Das innere Bild kann der nunmehr aufgeſtellten Forderung unmöglich genügen: denn verſetzt in den innern Bilderſaal des Geiſtes wird die Erſcheinung in jenen Wurf und Hauch der Allgemeinheit gezogen, den der Geiſt allen ſeinen blos innern Gebilden gibt: die Grenzen der Theile oder Glieder verſchwimmen. So können wir von einem Angeſicht eine den Grundcharakter deſſelben ganz beſtimmt feſthaltende innere Vorſtellung haben, ohne daß wir doch die Farbe des Auges, die Zeichnung der Naſe, Lippen anzugeben wüßten; die Wirkung, die dadurch entſteht, daß dieſe Theile durch dieſe Farbe, Geſtalt, Licht und Schatten ſich ſo und ſo voneinander abheben, iſt uns gegenwärtig, aber die Urſachen verſchweben ins Unbeſtimmte. Geht man mehr ins Große, ſo iſt der Mangel ein noch gröberer: das innere Bild einer Landſchaft, einer Scene, worin Menſchen handeln, einer Tonmaſſe, worin eine Empfindung ihre verſchiedenen Momente entfaltet, wird bei näherer Prüfung ſich nicht nur in dem Sinne als unverarbeitet zeigen, daß das Einzelne ineinander zerfließt, ſondern daß ganze Theile einen unpaſſenden Ort einnehmen; da muß jener Fels herüber zu dieſem Baum, mit dem er einen ſchönen Contraſt bildet, während er ſonſt nur ſtört, jene Figuren müßen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/44>, abgerufen am 28.03.2024.