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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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der Kunst gewendet. Diese Naturformen treten aber nicht nur als
Stoff gewisser Künste auf und diese müssen den Tact ihrer Gliederung
noch bestimmter ins Licht stellen, als er in der Natur hervortritt, sondern
auch abgesehen von dieser Nachahmung (man denke z. B. im Landschaft-
bild an Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, welche nur in der künst-
lerischen Auffassung sich so bestimmt voneinander abheben) und gerade in
den Künsten, die nur in sehr entferntem Sinne nachahmende sind (Bau-
kunst und Musik), wird sich ein Zwei- Drei- und Fünfschlag unschwer
aufweisen lassen: in der Baukunst als Tragendes, Getragenes, Abschluß
(im Giebel u. s. f.), im Musikwerk als Eingang, Entfaltung, Lösung
u. s. w.

§. 501.

Endlich wird im blos innern Bilde die äußere Begrenzung des so von
innen heraus geordneten Kunstwerks nicht scharf genug bestimmt sein. Das
Gesetz der festen Begrenzung hindert nun zwar nicht, daß eine Andeutung
der in's Unendliche auslaufenden Vielheit der Erscheinungen aus demselben
Gebiete, aus welchem das Kunstwerk einen streng geschlossenen Ausschnitt gibt,
an der Grenze hinschwebe; aber durch diesen Fernblick wird die Bedeutung des
Ganzen als eines Mikrokosmus, der den unendlichen Fluß der Dinge durch-
schneidend ein Einzelnes als reine Erscheinung des Allgemeinen hinstellt, nicht
aufgehoben.

Der Inhalt dieses Gesetzes ist nicht zu verwechseln mit dem, was
in §. 495 aufgestellt ist. Dort war die Rede von der innern Begren-
zung und Genüge des Kunstwerks, von der Idee, wie sie sowohl ein
Zuwenig, als ein Zuviel der Einzelbilder im innern Entwurfe zu
tilgen gebietet; jetzt nehmen wir an, daß alles Wesentliche geordnet und
erfüllt sei, ein Zug zu wenig oder zu viel in der Darstellung der Grund-
Idee geht uns hier nicht mehr an und das Capitelchen, das Lessing
zum Schlusse von Werthers Leiden sich noch ausbat, war, wenn es der
Dichter wirklich schuldig geblieben, ein Verstoß gegen jenes höhere, nicht
gegen das jetzt vorliegende Gesetz. Die Sache ist diese: das Kunstwerk
deutet (freilich nicht in jeder Kunstform so sichtbar, wie in der Malerei,
Musik, Poesie) an, daß es aus der unendlichen Vielheit der Dinge ein
Einzelnes, einen Moment gefesselt hat. Dieser Ausschnitt gilt jetzt für
das Ganze; streng genommen erkennt das Kunstwerk nicht an, daß in diesem
Gebiete es außer dem dargestellten Individuum noch andere gibt, denn
sein Individuum ist oder seine Individuen sind absolut, sind Repräsentanten.
Dennoch kann und will es nicht verbergen, daß sein Individuum auf eine

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der Kunſt gewendet. Dieſe Naturformen treten aber nicht nur als
Stoff gewiſſer Künſte auf und dieſe müſſen den Tact ihrer Gliederung
noch beſtimmter ins Licht ſtellen, als er in der Natur hervortritt, ſondern
auch abgeſehen von dieſer Nachahmung (man denke z. B. im Landſchaft-
bild an Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, welche nur in der künſt-
leriſchen Auffaſſung ſich ſo beſtimmt voneinander abheben) und gerade in
den Künſten, die nur in ſehr entferntem Sinne nachahmende ſind (Bau-
kunſt und Muſik), wird ſich ein Zwei- Drei- und Fünfſchlag unſchwer
aufweiſen laſſen: in der Baukunſt als Tragendes, Getragenes, Abſchluß
(im Giebel u. ſ. f.), im Muſikwerk als Eingang, Entfaltung, Löſung
u. ſ. w.

§. 501.

Endlich wird im blos innern Bilde die äußere Begrenzung des ſo von
innen heraus geordneten Kunſtwerks nicht ſcharf genug beſtimmt ſein. Das
Geſetz der feſten Begrenzung hindert nun zwar nicht, daß eine Andeutung
der in’s Unendliche auslaufenden Vielheit der Erſcheinungen aus demſelben
Gebiete, aus welchem das Kunſtwerk einen ſtreng geſchloſſenen Ausſchnitt gibt,
an der Grenze hinſchwebe; aber durch dieſen Fernblick wird die Bedeutung des
Ganzen als eines Mikrokosmus, der den unendlichen Fluß der Dinge durch-
ſchneidend ein Einzelnes als reine Erſcheinung des Allgemeinen hinſtellt, nicht
aufgehoben.

Der Inhalt dieſes Geſetzes iſt nicht zu verwechſeln mit dem, was
in §. 495 aufgeſtellt iſt. Dort war die Rede von der innern Begren-
zung und Genüge des Kunſtwerks, von der Idee, wie ſie ſowohl ein
Zuwenig, als ein Zuviel der Einzelbilder im innern Entwurfe zu
tilgen gebietet; jetzt nehmen wir an, daß alles Weſentliche geordnet und
erfüllt ſei, ein Zug zu wenig oder zu viel in der Darſtellung der Grund-
Idee geht uns hier nicht mehr an und das Capitelchen, das Leſſing
zum Schluſſe von Werthers Leiden ſich noch ausbat, war, wenn es der
Dichter wirklich ſchuldig geblieben, ein Verſtoß gegen jenes höhere, nicht
gegen das jetzt vorliegende Geſetz. Die Sache iſt dieſe: das Kunſtwerk
deutet (freilich nicht in jeder Kunſtform ſo ſichtbar, wie in der Malerei,
Muſik, Poeſie) an, daß es aus der unendlichen Vielheit der Dinge ein
Einzelnes, einen Moment gefeſſelt hat. Dieſer Ausſchnitt gilt jetzt für
das Ganze; ſtreng genommen erkennt das Kunſtwerk nicht an, daß in dieſem
Gebiete es außer dem dargeſtellten Individuum noch andere gibt, denn
ſein Individuum iſt oder ſeine Individuen ſind abſolut, ſind Repräſentanten.
Dennoch kann und will es nicht verbergen, daß ſein Individuum auf eine

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[51/0063] der Kunſt gewendet. Dieſe Naturformen treten aber nicht nur als Stoff gewiſſer Künſte auf und dieſe müſſen den Tact ihrer Gliederung noch beſtimmter ins Licht ſtellen, als er in der Natur hervortritt, ſondern auch abgeſehen von dieſer Nachahmung (man denke z. B. im Landſchaft- bild an Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, welche nur in der künſt- leriſchen Auffaſſung ſich ſo beſtimmt voneinander abheben) und gerade in den Künſten, die nur in ſehr entferntem Sinne nachahmende ſind (Bau- kunſt und Muſik), wird ſich ein Zwei- Drei- und Fünfſchlag unſchwer aufweiſen laſſen: in der Baukunſt als Tragendes, Getragenes, Abſchluß (im Giebel u. ſ. f.), im Muſikwerk als Eingang, Entfaltung, Löſung u. ſ. w. §. 501. Endlich wird im blos innern Bilde die äußere Begrenzung des ſo von innen heraus geordneten Kunſtwerks nicht ſcharf genug beſtimmt ſein. Das Geſetz der feſten Begrenzung hindert nun zwar nicht, daß eine Andeutung der in’s Unendliche auslaufenden Vielheit der Erſcheinungen aus demſelben Gebiete, aus welchem das Kunſtwerk einen ſtreng geſchloſſenen Ausſchnitt gibt, an der Grenze hinſchwebe; aber durch dieſen Fernblick wird die Bedeutung des Ganzen als eines Mikrokosmus, der den unendlichen Fluß der Dinge durch- ſchneidend ein Einzelnes als reine Erſcheinung des Allgemeinen hinſtellt, nicht aufgehoben. Der Inhalt dieſes Geſetzes iſt nicht zu verwechſeln mit dem, was in §. 495 aufgeſtellt iſt. Dort war die Rede von der innern Begren- zung und Genüge des Kunſtwerks, von der Idee, wie ſie ſowohl ein Zuwenig, als ein Zuviel der Einzelbilder im innern Entwurfe zu tilgen gebietet; jetzt nehmen wir an, daß alles Weſentliche geordnet und erfüllt ſei, ein Zug zu wenig oder zu viel in der Darſtellung der Grund- Idee geht uns hier nicht mehr an und das Capitelchen, das Leſſing zum Schluſſe von Werthers Leiden ſich noch ausbat, war, wenn es der Dichter wirklich ſchuldig geblieben, ein Verſtoß gegen jenes höhere, nicht gegen das jetzt vorliegende Geſetz. Die Sache iſt dieſe: das Kunſtwerk deutet (freilich nicht in jeder Kunſtform ſo ſichtbar, wie in der Malerei, Muſik, Poeſie) an, daß es aus der unendlichen Vielheit der Dinge ein Einzelnes, einen Moment gefeſſelt hat. Dieſer Ausſchnitt gilt jetzt für das Ganze; ſtreng genommen erkennt das Kunſtwerk nicht an, daß in dieſem Gebiete es außer dem dargeſtellten Individuum noch andere gibt, denn ſein Individuum iſt oder ſeine Individuen ſind abſolut, ſind Repräſentanten. Dennoch kann und will es nicht verbergen, daß ſein Individuum auf eine 4*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/63>, abgerufen am 29.03.2024.