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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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beiden Arten von Melodie an die beiden Hauptgattungen der Composition
zu vertheilen. Ein ausschließender Gegensatz zwischen eigentlicher und un-
eigentlicher Melodie findet des wesentlichen Unterschieds beider nicht statt;
beide können, falls nur Fehler wie der eben angeführte vermieden werden,
in einem und demselben Tonstück zusammen angewendet werden, so namentlich
in Instrumentalstücken von einfachem und doch lebendig bewegtem Charakter,
wie Tänze, Märsche und dergleichen. Ja die eigentliche Melodie kann in
uneigentliche, in figurirte sich verwandeln; die Richtung des Tonfortgangs,
seine lineare Bewegung bleibt im Allgemeinen dieselbe und spezificirt sich
doch in den einzelnen Theilen zu einer Mannigfaltigkeit von Wendungen,
welche größeres Leben in ihn bringen; die einzelnen Glieder (Noten, Takte)
der ursprünglichen Melodie verselbständigen sich, regen sich, treiben kleinere
ineinander übergreifende Sprossen und Zweige, und die Gestalt des Ganzen
scheint deßungeachtet unverändert durch diese Zuthaten hindurch. An dieser
Figurirung der Melodie hat die Musik ein Hauptmittel der Belebung
und Mannigfaltigkeit, das auch die Vocalmusik für diese Zwecke reichlich
verwenden kann.

§. 780.

1.

Wie zwischen Melodie im engern und weitern Sinn zu unterscheiden ist,
so ist auch die ihr wesentliche Periodicität eine doppelte; sie bezieht sich theils
auf die Anordnung des Ganzen, sofern diese einen nach den Gesetzen der Sym-
metrie gesialteten Periodenbau darstellen muß, theils auf die größern und kleinern
Glieder der längern periodischen Abschnitte, indem auch diese untergeordneten
Glieder eigene, unter sich zusammengehörige Gruppen darstellen müssen. Quan-
titativ läßt die periodische Gliederung sehr vielfache Unterschiede der Zahl der
2.Haupt- und Unterabtheilungen zu; in qualitativer Beziehung aber ist noth-
wendig, daß die einzelnen Theile und Gruppen bei aller Selbständigkeit natür-
lich, fließend, in lebendigem Bewegungsrhythmus sich an einander anreihen.

1. Das so weich und schwebend scheinende Gebilde der Melodie verbirgt
in sich eine strenge Gliederung und Gruppirung, deren Nothwendigkeit der
vorhergehende §. nachgewiesen hat und deren Wesen nun noch spezieller zu
betrachten ist. Am klarsten tritt sie hervor bei der Melodie im engern
Sinne, während die blos melodiöse Tonfolge wenigstens in größern Ton-
stücken keinen so einfach bestimmten Gesetzen der Anordnung unterworfen
ist (§. 779, 2.), daher hier zunächst nur von eigentlicher Melodie und kleinern
Melodieen im weitern Sinn die Rede ist. Das melodische Tonstück baut
sich in der Regel auf aus zwei in Bezug auf Länge einander conformen
Haupttheilen; dieselben können, wie namentlich in bewegtern Stücken (beson-
ders Arien), auch einen dritten in die Mitte nehmen, aber die normale

beiden Arten von Melodie an die beiden Hauptgattungen der Compoſition
zu vertheilen. Ein ausſchließender Gegenſatz zwiſchen eigentlicher und un-
eigentlicher Melodie findet des weſentlichen Unterſchieds beider nicht ſtatt;
beide können, falls nur Fehler wie der eben angeführte vermieden werden,
in einem und demſelben Tonſtück zuſammen angewendet werden, ſo namentlich
in Inſtrumentalſtücken von einfachem und doch lebendig bewegtem Charakter,
wie Tänze, Märſche und dergleichen. Ja die eigentliche Melodie kann in
uneigentliche, in figurirte ſich verwandeln; die Richtung des Tonfortgangs,
ſeine lineare Bewegung bleibt im Allgemeinen dieſelbe und ſpezificirt ſich
doch in den einzelnen Theilen zu einer Mannigfaltigkeit von Wendungen,
welche größeres Leben in ihn bringen; die einzelnen Glieder (Noten, Takte)
der urſprünglichen Melodie verſelbſtändigen ſich, regen ſich, treiben kleinere
ineinander übergreifende Sproſſen und Zweige, und die Geſtalt des Ganzen
ſcheint deßungeachtet unverändert durch dieſe Zuthaten hindurch. An dieſer
Figurirung der Melodie hat die Muſik ein Hauptmittel der Belebung
und Mannigfaltigkeit, das auch die Vocalmuſik für dieſe Zwecke reichlich
verwenden kann.

§. 780.

1.

Wie zwiſchen Melodie im engern und weitern Sinn zu unterſcheiden iſt,
ſo iſt auch die ihr weſentliche Periodicität eine doppelte; ſie bezieht ſich theils
auf die Anordnung des Ganzen, ſofern dieſe einen nach den Geſetzen der Sym-
metrie geſialteten Periodenbau darſtellen muß, theils auf die größern und kleinern
Glieder der längern periodiſchen Abſchnitte, indem auch dieſe untergeordneten
Glieder eigene, unter ſich zuſammengehörige Gruppen darſtellen müſſen. Quan-
titativ läßt die periodiſche Gliederung ſehr vielfache Unterſchiede der Zahl der
2.Haupt- und Unterabtheilungen zu; in qualitativer Beziehung aber iſt noth-
wendig, daß die einzelnen Theile und Gruppen bei aller Selbſtändigkeit natür-
lich, fließend, in lebendigem Bewegungsrhythmus ſich an einander anreihen.

1. Das ſo weich und ſchwebend ſcheinende Gebilde der Melodie verbirgt
in ſich eine ſtrenge Gliederung und Gruppirung, deren Nothwendigkeit der
vorhergehende §. nachgewieſen hat und deren Weſen nun noch ſpezieller zu
betrachten iſt. Am klarſten tritt ſie hervor bei der Melodie im engern
Sinne, während die blos melodiöſe Tonfolge wenigſtens in größern Ton-
ſtücken keinen ſo einfach beſtimmten Geſetzen der Anordnung unterworfen
iſt (§. 779, 2.), daher hier zunächſt nur von eigentlicher Melodie und kleinern
Melodieen im weitern Sinn die Rede iſt. Das melodiſche Tonſtück baut
ſich in der Regel auf aus zwei in Bezug auf Länge einander conformen
Haupttheilen; dieſelben können, wie namentlich in bewegtern Stücken (beſon-
ders Arien), auch einen dritten in die Mitte nehmen, aber die normale

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[924/0162] beiden Arten von Melodie an die beiden Hauptgattungen der Compoſition zu vertheilen. Ein ausſchließender Gegenſatz zwiſchen eigentlicher und un- eigentlicher Melodie findet des weſentlichen Unterſchieds beider nicht ſtatt; beide können, falls nur Fehler wie der eben angeführte vermieden werden, in einem und demſelben Tonſtück zuſammen angewendet werden, ſo namentlich in Inſtrumentalſtücken von einfachem und doch lebendig bewegtem Charakter, wie Tänze, Märſche und dergleichen. Ja die eigentliche Melodie kann in uneigentliche, in figurirte ſich verwandeln; die Richtung des Tonfortgangs, ſeine lineare Bewegung bleibt im Allgemeinen dieſelbe und ſpezificirt ſich doch in den einzelnen Theilen zu einer Mannigfaltigkeit von Wendungen, welche größeres Leben in ihn bringen; die einzelnen Glieder (Noten, Takte) der urſprünglichen Melodie verſelbſtändigen ſich, regen ſich, treiben kleinere ineinander übergreifende Sproſſen und Zweige, und die Geſtalt des Ganzen ſcheint deßungeachtet unverändert durch dieſe Zuthaten hindurch. An dieſer Figurirung der Melodie hat die Muſik ein Hauptmittel der Belebung und Mannigfaltigkeit, das auch die Vocalmuſik für dieſe Zwecke reichlich verwenden kann. §. 780. Wie zwiſchen Melodie im engern und weitern Sinn zu unterſcheiden iſt, ſo iſt auch die ihr weſentliche Periodicität eine doppelte; ſie bezieht ſich theils auf die Anordnung des Ganzen, ſofern dieſe einen nach den Geſetzen der Sym- metrie geſialteten Periodenbau darſtellen muß, theils auf die größern und kleinern Glieder der längern periodiſchen Abſchnitte, indem auch dieſe untergeordneten Glieder eigene, unter ſich zuſammengehörige Gruppen darſtellen müſſen. Quan- titativ läßt die periodiſche Gliederung ſehr vielfache Unterſchiede der Zahl der Haupt- und Unterabtheilungen zu; in qualitativer Beziehung aber iſt noth- wendig, daß die einzelnen Theile und Gruppen bei aller Selbſtändigkeit natür- lich, fließend, in lebendigem Bewegungsrhythmus ſich an einander anreihen. 1. Das ſo weich und ſchwebend ſcheinende Gebilde der Melodie verbirgt in ſich eine ſtrenge Gliederung und Gruppirung, deren Nothwendigkeit der vorhergehende §. nachgewieſen hat und deren Weſen nun noch ſpezieller zu betrachten iſt. Am klarſten tritt ſie hervor bei der Melodie im engern Sinne, während die blos melodiöſe Tonfolge wenigſtens in größern Ton- ſtücken keinen ſo einfach beſtimmten Geſetzen der Anordnung unterworfen iſt (§. 779, 2.), daher hier zunächſt nur von eigentlicher Melodie und kleinern Melodieen im weitern Sinn die Rede iſt. Das melodiſche Tonſtück baut ſich in der Regel auf aus zwei in Bezug auf Länge einander conformen Haupttheilen; dieſelben können, wie namentlich in bewegtern Stücken (beſon- ders Arien), auch einen dritten in die Mitte nehmen, aber die normale

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 924. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/162>, abgerufen am 19.04.2024.