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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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hobenen, auch der romantischen Poesie nur mit wenigen großen Ausnahmen
anhängenden Mängel. Die Modernität ist an sich nicht zu verwerfen,
sie ist eine Form der Musik, welche deren Entwicklungsgang mit sich bringt,
sie findet sich auch bei Beethoven in Werken, in welchen der Gefühlsinhalt
sich weniger hervordrängt, sie hat ihre Berechtigung in der stoffbeherrschenden,
selbstbewußt auftretenden Freiheit des musikalischen Gedankens, Ausdrucks,
und Effects; aber daß hier die Gefahr des Effectmachens, des Brillanten,
des Inhaltslosen u. s. w. nahe liegt, und daß diese Modernität nur ein
Durchgangspunct ist, daß sie eine Sättigung mit concreterem Gefühlsinhalt
fordert, ist klar, da die Musik Kunst der empfindenden Phantasie ist. Eben-
darum kann sie auch nicht das ganze Gebiet der Musik beherrschen; es
bleibt neben dem absolut Modernen die Sphäre einfach melodischer Lyrik
namentlich durch die schön erblühende Liedcomposition vertreten, in welcher
nicht blos durch Opern-, sondern durch eine zahlreiche Reihe von Gesangs-
componisten auch in dieser Epoche noch eine reiche Fülle ächter und ächt-
deutscher Musik zu Tage gefördert wird; die Blüthe der classischen deutschen
Poesie wirkt auch auf die Musik anregend und ruft die schönen Ton-
dichtungen eines Reichardt, Zelter, Schubert u. s. w. hervor, das
Volkslied wird besonders durch Silcher wieder erweckt und die Gattung
des volksthümlichen Kunstliedes von ihm mit schönen Productionen leicht-
anmuthiger wie ernsterer und tieferer Art bereichert, und auch der seit Nägeli
aufblühende Männergesang zeigt, daß die moderne Kunstmusik, obwohl sie
auch in diesen eindringt, für sich allein dem Bewußtsein der Zeit nicht
genügt.

§. 832.

Während die Musik bei Meyerbeer in der Oper den Gipfel der Mo-
dernität erreicht, erlebt sie in Mendelssohn eine Nachblüthe, in welcher sie
sich der einseitigen Modernität zu begeben, sich mit reinem Gefühlsausdruck
und tiefem Gehalt wieder zu erfüllen, durch strengere Formen festere Haltung
und objectivere Gedankenentwicklung neu zu gewinnen strebt. Ein Gefühl, daß
die Musik der Gegenwart in die gefährliche Bahn eines mit den Tonmitteln
willkürlich waltenden hohlen Subjectivismus gerathen sei, macht sich deßunge-
achtet in immer bestimmterer Weise geltend und drängt Wagner zu dem
Versuche, eine dramatische Musik zu begründen, welche sich der Poesie als bloßes
Mittel zum Ausdruck ihres Inhaltes unterordnen, somit auf selbständige Ent-
wicklung der musikalischen Kunstformen verzichten soll. Daß die Musik eine
derartige Rückkehr zum antiken Standpunct vollziehen und damit den Kreislauf
ihrer Entwicklung beendigen werde, ist nicht anzunehmen, ein Fortschritt der
Oper aber allerdings nur von neuen, der empfindenden Phantasie sich darbie-
tenden objectiven gehaltvollen Stoffen zu erwarten.


hobenen, auch der romantiſchen Poeſie nur mit wenigen großen Ausnahmen
anhängenden Mängel. Die Modernität iſt an ſich nicht zu verwerfen,
ſie iſt eine Form der Muſik, welche deren Entwicklungsgang mit ſich bringt,
ſie findet ſich auch bei Beethoven in Werken, in welchen der Gefühlsinhalt
ſich weniger hervordrängt, ſie hat ihre Berechtigung in der ſtoffbeherrſchenden,
ſelbſtbewußt auftretenden Freiheit des muſikaliſchen Gedankens, Ausdrucks,
und Effects; aber daß hier die Gefahr des Effectmachens, des Brillanten,
des Inhaltsloſen u. ſ. w. nahe liegt, und daß dieſe Modernität nur ein
Durchgangspunct iſt, daß ſie eine Sättigung mit concreterem Gefühlsinhalt
fordert, iſt klar, da die Muſik Kunſt der empfindenden Phantaſie iſt. Eben-
darum kann ſie auch nicht das ganze Gebiet der Muſik beherrſchen; es
bleibt neben dem abſolut Modernen die Sphäre einfach melodiſcher Lyrik
namentlich durch die ſchön erblühende Liedcompoſition vertreten, in welcher
nicht blos durch Opern-, ſondern durch eine zahlreiche Reihe von Geſangs-
componiſten auch in dieſer Epoche noch eine reiche Fülle ächter und ächt-
deutſcher Muſik zu Tage gefördert wird; die Blüthe der claſſiſchen deutſchen
Poeſie wirkt auch auf die Muſik anregend und ruft die ſchönen Ton-
dichtungen eines Reichardt, Zelter, Schubert u. ſ. w. hervor, das
Volkslied wird beſonders durch Silcher wieder erweckt und die Gattung
des volksthümlichen Kunſtliedes von ihm mit ſchönen Productionen leicht-
anmuthiger wie ernſterer und tieferer Art bereichert, und auch der ſeit Nägeli
aufblühende Männergeſang zeigt, daß die moderne Kunſtmuſik, obwohl ſie
auch in dieſen eindringt, für ſich allein dem Bewußtſein der Zeit nicht
genügt.

§. 832.

Während die Muſik bei Meyerbeer in der Oper den Gipfel der Mo-
dernität erreicht, erlebt ſie in Mendelsſohn eine Nachblüthe, in welcher ſie
ſich der einſeitigen Modernität zu begeben, ſich mit reinem Gefühlsausdruck
und tiefem Gehalt wieder zu erfüllen, durch ſtrengere Formen feſtere Haltung
und objectivere Gedankenentwicklung neu zu gewinnen ſtrebt. Ein Gefühl, daß
die Muſik der Gegenwart in die gefährliche Bahn eines mit den Tonmitteln
willkürlich waltenden hohlen Subjectivismus gerathen ſei, macht ſich deßunge-
achtet in immer beſtimmterer Weiſe geltend und drängt Wagner zu dem
Verſuche, eine dramatiſche Muſik zu begründen, welche ſich der Poeſie als bloßes
Mittel zum Ausdruck ihres Inhaltes unterordnen, ſomit auf ſelbſtändige Ent-
wicklung der muſikaliſchen Kunſtformen verzichten ſoll. Daß die Muſik eine
derartige Rückkehr zum antiken Standpunct vollziehen und damit den Kreislauf
ihrer Entwicklung beendigen werde, iſt nicht anzunehmen, ein Fortſchritt der
Oper aber allerdings nur von neuen, der empfindenden Phantaſie ſich darbie-
tenden objectiven gehaltvollen Stoffen zu erwarten.


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[1148/0386] hobenen, auch der romantiſchen Poeſie nur mit wenigen großen Ausnahmen anhängenden Mängel. Die Modernität iſt an ſich nicht zu verwerfen, ſie iſt eine Form der Muſik, welche deren Entwicklungsgang mit ſich bringt, ſie findet ſich auch bei Beethoven in Werken, in welchen der Gefühlsinhalt ſich weniger hervordrängt, ſie hat ihre Berechtigung in der ſtoffbeherrſchenden, ſelbſtbewußt auftretenden Freiheit des muſikaliſchen Gedankens, Ausdrucks, und Effects; aber daß hier die Gefahr des Effectmachens, des Brillanten, des Inhaltsloſen u. ſ. w. nahe liegt, und daß dieſe Modernität nur ein Durchgangspunct iſt, daß ſie eine Sättigung mit concreterem Gefühlsinhalt fordert, iſt klar, da die Muſik Kunſt der empfindenden Phantaſie iſt. Eben- darum kann ſie auch nicht das ganze Gebiet der Muſik beherrſchen; es bleibt neben dem abſolut Modernen die Sphäre einfach melodiſcher Lyrik namentlich durch die ſchön erblühende Liedcompoſition vertreten, in welcher nicht blos durch Opern-, ſondern durch eine zahlreiche Reihe von Geſangs- componiſten auch in dieſer Epoche noch eine reiche Fülle ächter und ächt- deutſcher Muſik zu Tage gefördert wird; die Blüthe der claſſiſchen deutſchen Poeſie wirkt auch auf die Muſik anregend und ruft die ſchönen Ton- dichtungen eines Reichardt, Zelter, Schubert u. ſ. w. hervor, das Volkslied wird beſonders durch Silcher wieder erweckt und die Gattung des volksthümlichen Kunſtliedes von ihm mit ſchönen Productionen leicht- anmuthiger wie ernſterer und tieferer Art bereichert, und auch der ſeit Nägeli aufblühende Männergeſang zeigt, daß die moderne Kunſtmuſik, obwohl ſie auch in dieſen eindringt, für ſich allein dem Bewußtſein der Zeit nicht genügt. §. 832. Während die Muſik bei Meyerbeer in der Oper den Gipfel der Mo- dernität erreicht, erlebt ſie in Mendelsſohn eine Nachblüthe, in welcher ſie ſich der einſeitigen Modernität zu begeben, ſich mit reinem Gefühlsausdruck und tiefem Gehalt wieder zu erfüllen, durch ſtrengere Formen feſtere Haltung und objectivere Gedankenentwicklung neu zu gewinnen ſtrebt. Ein Gefühl, daß die Muſik der Gegenwart in die gefährliche Bahn eines mit den Tonmitteln willkürlich waltenden hohlen Subjectivismus gerathen ſei, macht ſich deßunge- achtet in immer beſtimmterer Weiſe geltend und drängt Wagner zu dem Verſuche, eine dramatiſche Muſik zu begründen, welche ſich der Poeſie als bloßes Mittel zum Ausdruck ihres Inhaltes unterordnen, ſomit auf ſelbſtändige Ent- wicklung der muſikaliſchen Kunſtformen verzichten ſoll. Daß die Muſik eine derartige Rückkehr zum antiken Standpunct vollziehen und damit den Kreislauf ihrer Entwicklung beendigen werde, iſt nicht anzunehmen, ein Fortſchritt der Oper aber allerdings nur von neuen, der empfindenden Phantaſie ſich darbie- tenden objectiven gehaltvollen Stoffen zu erwarten.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/386>, abgerufen am 29.03.2024.