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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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abgeschied'nen Greisen und irrte traurend durch die
Ruinen und las die Jnschriften auf dem alten Ge-
steine. Dann setzt' ich mich nieder. Frisch blinkte
der Thau auf den Blättern, im Glanz der Sonne,
die durch Lorbeer und Oliven ihre zitternden Strah-
len auf mich warf und mit warmem Kusse mir um
die Wangen spielte. Ueber den Rebenhügeln lag
vor mir der Mänale mit seinen Fichten, der Arte-
misios und der waldige Ourthenios stand zur Seite,
und in weiter Ferne dämmerten, wie ein Traum,
im röthlichen Morgenduft verschwimmend, die wei-
ßen, schneeumwob'nen Riesenstirnen des Taygetos.
Da kniet' ich nieder auf die geweihte Erde, und
betete die Sonne an, und schwur in Thränen bey
den Geistern meiner Ahnen, würdig zu werden
ihrer erhabenen Heldengröße, und zu sterben, wenn
die Zeit kommt, für mein unterdrücktes Vaterland.

Nun gieng ich durch die Haide von Tegeea,
wo traurig um die ungeheuern Trümmer der gelbe
Grashalm wanket, und bald lag das verarmte
Korinth vor mir, dem hohen, von zwey Meeren
bespühlten Geranion die Füße küssend.

Umsonst suchte mein Auge die Tempel der
Freude, wo einst die schöne Jugend der Macht der

abgeſchied’nen Greiſen und irrte traurend durch die
Ruinen und las die Jnſchriften auf dem alten Ge-
ſteine. Dann ſetzt’ ich mich nieder. Friſch blinkte
der Thau auf den Blaͤttern, im Glanz der Sonne,
die durch Lorbeer und Oliven ihre zitternden Strah-
len auf mich warf und mit warmem Kuſſe mir um
die Wangen ſpielte. Ueber den Rebenhuͤgeln lag
vor mir der Maͤnale mit ſeinen Fichten, der Arte-
miſios und der waldige Ourthenios ſtand zur Seite,
und in weiter Ferne daͤmmerten, wie ein Traum,
im roͤthlichen Morgenduft verſchwimmend, die wei-
ßen, ſchneeumwob’nen Rieſenſtirnen des Taygetos.
Da kniet’ ich nieder auf die geweihte Erde, und
betete die Sonne an, und ſchwur in Thraͤnen bey
den Geiſtern meiner Ahnen, wuͤrdig zu werden
ihrer erhabenen Heldengroͤße, und zu ſterben, wenn
die Zeit kommt, fuͤr mein unterdruͤcktes Vaterland.

Nun gieng ich durch die Haide von Tegeea,
wo traurig um die ungeheuern Truͤmmer der gelbe
Grashalm wanket, und bald lag das verarmte
Korinth vor mir, dem hohen, von zwey Meeren
beſpuͤhlten Geranion die Fuͤße kuͤſſend.

Umſonſt ſuchte mein Auge die Tempel der
Freude, wo einſt die ſchoͤne Jugend der Macht der

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[27/0027] abgeſchied’nen Greiſen und irrte traurend durch die Ruinen und las die Jnſchriften auf dem alten Ge- ſteine. Dann ſetzt’ ich mich nieder. Friſch blinkte der Thau auf den Blaͤttern, im Glanz der Sonne, die durch Lorbeer und Oliven ihre zitternden Strah- len auf mich warf und mit warmem Kuſſe mir um die Wangen ſpielte. Ueber den Rebenhuͤgeln lag vor mir der Maͤnale mit ſeinen Fichten, der Arte- miſios und der waldige Ourthenios ſtand zur Seite, und in weiter Ferne daͤmmerten, wie ein Traum, im roͤthlichen Morgenduft verſchwimmend, die wei- ßen, ſchneeumwob’nen Rieſenſtirnen des Taygetos. Da kniet’ ich nieder auf die geweihte Erde, und betete die Sonne an, und ſchwur in Thraͤnen bey den Geiſtern meiner Ahnen, wuͤrdig zu werden ihrer erhabenen Heldengroͤße, und zu ſterben, wenn die Zeit kommt, fuͤr mein unterdruͤcktes Vaterland. Nun gieng ich durch die Haide von Tegeea, wo traurig um die ungeheuern Truͤmmer der gelbe Grashalm wanket, und bald lag das verarmte Korinth vor mir, dem hohen, von zwey Meeren beſpuͤhlten Geranion die Fuͤße kuͤſſend. Umſonſt ſuchte mein Auge die Tempel der Freude, wo einſt die ſchoͤne Jugend der Macht der

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/27>, abgerufen am 24.04.2024.