Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Folge. Das ist die gewöhnliche Entstehung der Taubstummheit;
das Kind hat keine Klangvorstellungen acquirirt, von denen aus
Bewegungsvorstellungen ins Bewusstsein gerufen werden könnten.

Durch das ausnahmslose Auftreten auch der Stummheit bei
angeborener oder zeitig acquirirter Taubheit fällt ein höchst
interessantes Streiflicht auf die Bedeutung der Gehörseindrücke
für die Entwickelung der Sprache. Es ist nämlich ein allgemein
verbreiteter, besonders von Philosophen und Sprachforschern
(Steinthal) vertretener Irrtum, dass für die Entwickelung der
Sprache das wichtigste Moment die Bildung des Begriffes, also
die Summe der verschiedenen Sinneseindrücke eines Gegenstandes
sei. Der Begriff schaffe sich die Sprache aus einem inneren
Bedürfnisse heraus, ihre Entwickelung folge beim jetzigen Menschen
denselben Gesetzen, nach denen sie sich beim Urmenschen ent-
wickelte -- die Sprache sei also nicht Nachahmung, sondern
ein von selbst eintretendes Ereignis, wofür die Bedingungen, die
Bildung der Begriffe, von allen Sinnesgebieten gleichmässig ge-
liefert würden; eine innigere Beziehung eines Sinnesgebietes,
nämlich des Gehörs, habe dabei nicht statt. Verhielte es sich so,
so hätte der Blindgeborene viel mehr Ursache stumm zu werden
als der taub Geborene, denn es unterliegt wohl keinem Zweifel,
dass das Auge von allen Sinnesgebieten dasjenige ist, welches bei
weitem die meisten Merkmale der Gegenstände uns zuführt, also
bei weitem am wichtigsten für die Bildung der Begriffe ist.
Obwohl die Sinnesgebiete des Auges, des Tastorganes, des
Geruches etc., kurz alle die für den Begriff wesentlichen ebenso
mit den beim Sprechen innervirten Bewegungsvorstellungen durch
einen Theil des Associationssystemes verbunden gedacht werden
müssen,*) so hat doch nur die Bahn a a1 b eine so immense Wich-
tigkeit für die Entwickelung der Sprache, weil auf ihr das Kind
sprechen lernt. Die Hauptaufgabe des Kindes, welches sprechen
lernt, ist die Nachahmung des gehörten Wortes; dasselbe mit
einem bestimmten Begriffe verknüpfen lernt es erst, wenn es
schon längst im Besitze des Wortes ist. Das Wort ist eben Nach-
ahmung des Klangbildes, nicht des Gesichtsbildes oder Tast-
bildes; und ein taub Geborener lernt zunächst eben so wenig
sprechen, wie ein Blinder je zeichnen gelernt hat.

*) Wie später gezeigt wird.

Folge. Das ist die gewöhnliche Entstehung der Taubstummheit;
das Kind hat keine Klangvorstellungen acquirirt, von denen aus
Bewegungsvorstellungen ins Bewusstsein gerufen werden könnten.

Durch das ausnahmslose Auftreten auch der Stummheit bei
angeborener oder zeitig acquirirter Taubheit fällt ein höchst
interessantes Streiflicht auf die Bedeutung der Gehörseindrücke
für die Entwickelung der Sprache. Es ist nämlich ein allgemein
verbreiteter, besonders von Philosophen und Sprachforschern
(Steinthal) vertretener Irrtum, dass für die Entwickelung der
Sprache das wichtigste Moment die Bildung des Begriffes, also
die Summe der verschiedenen Sinneseindrücke eines Gegenstandes
sei. Der Begriff schaffe sich die Sprache aus einem inneren
Bedürfnisse heraus, ihre Entwickelung folge beim jetzigen Menschen
denselben Gesetzen, nach denen sie sich beim Urmenschen ent-
wickelte — die Sprache sei also nicht Nachahmung, sondern
ein von selbst eintretendes Ereignis, wofür die Bedingungen, die
Bildung der Begriffe, von allen Sinnesgebieten gleichmässig ge-
liefert würden; eine innigere Beziehung eines Sinnesgebietes,
nämlich des Gehörs, habe dabei nicht statt. Verhielte es sich so,
so hätte der Blindgeborene viel mehr Ursache stumm zu werden
als der taub Geborene, denn es unterliegt wohl keinem Zweifel,
dass das Auge von allen Sinnesgebieten dasjenige ist, welches bei
weitem die meisten Merkmale der Gegenstände uns zuführt, also
bei weitem am wichtigsten für die Bildung der Begriffe ist.
Obwohl die Sinnesgebiete des Auges, des Tastorganes, des
Geruches etc., kurz alle die für den Begriff wesentlichen ebenso
mit den beim Sprechen innervirten Bewegungsvorstellungen durch
einen Theil des Associationssystemes verbunden gedacht werden
müssen,*) so hat doch nur die Bahn a a1 b eine so immense Wich-
tigkeit für die Entwickelung der Sprache, weil auf ihr das Kind
sprechen lernt. Die Hauptaufgabe des Kindes, welches sprechen
lernt, ist die Nachahmung des gehörten Wortes; dasselbe mit
einem bestimmten Begriffe verknüpfen lernt es erst, wenn es
schon längst im Besitze des Wortes ist. Das Wort ist eben Nach-
ahmung des Klangbildes, nicht des Gesichtsbildes oder Tast-
bildes; und ein taub Geborener lernt zunächst eben so wenig
sprechen, wie ein Blinder je zeichnen gelernt hat.

*) Wie später gezeigt wird.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0024" n="20"/><hi rendition="#g">Folge.</hi> Das ist die gewöhnliche Entstehung der Taubstummheit;<lb/>
das Kind hat keine Klangvorstellungen acquirirt, von denen aus<lb/>
Bewegungsvorstellungen ins Bewusstsein gerufen werden könnten.</p><lb/>
          <p>Durch das ausnahmslose Auftreten auch der Stummheit bei<lb/>
angeborener oder zeitig acquirirter Taubheit fällt ein höchst<lb/>
interessantes Streiflicht auf die Bedeutung der Gehörseindrücke<lb/>
für die Entwickelung der Sprache. Es ist nämlich ein allgemein<lb/>
verbreiteter, besonders von Philosophen und Sprachforschern<lb/>
(Steinthal) vertretener Irrtum, dass für die Entwickelung der<lb/>
Sprache das wichtigste Moment die Bildung des Begriffes, also<lb/>
die Summe der verschiedenen Sinneseindrücke eines Gegenstandes<lb/>
sei. Der Begriff schaffe sich die Sprache aus einem inneren<lb/>
Bedürfnisse heraus, ihre Entwickelung folge beim jetzigen Menschen<lb/>
denselben Gesetzen, nach denen sie sich beim Urmenschen ent-<lb/>
wickelte &#x2014; die Sprache sei also nicht Nachahmung, sondern<lb/>
ein von selbst eintretendes Ereignis, wofür die Bedingungen, die<lb/>
Bildung der Begriffe, von allen Sinnesgebieten gleichmässig ge-<lb/>
liefert würden; eine innigere Beziehung eines Sinnesgebietes,<lb/>
nämlich des Gehörs, habe dabei nicht statt. Verhielte es sich so,<lb/>
so hätte der Blindgeborene viel mehr Ursache stumm zu werden<lb/>
als der taub Geborene, denn es unterliegt wohl keinem Zweifel,<lb/>
dass das Auge von allen Sinnesgebieten dasjenige ist, welches bei<lb/>
weitem die meisten Merkmale der Gegenstände uns zuführt, also<lb/>
bei weitem am wichtigsten für die Bildung der Begriffe ist.<lb/>
Obwohl die Sinnesgebiete des Auges, des Tastorganes, des<lb/>
Geruches etc., kurz alle die für den Begriff wesentlichen ebenso<lb/>
mit den beim Sprechen innervirten Bewegungsvorstellungen durch<lb/>
einen Theil des Associationssystemes verbunden gedacht werden<lb/>
müssen,<note place="foot" n="*)">Wie später gezeigt wird.</note> so hat doch nur die Bahn a a<hi rendition="#sub">1</hi> b eine so immense Wich-<lb/>
tigkeit für die Entwickelung der Sprache, weil auf ihr das Kind<lb/>
sprechen lernt. Die Hauptaufgabe des Kindes, welches sprechen<lb/>
lernt, ist die Nachahmung des gehörten Wortes; dasselbe mit<lb/>
einem bestimmten Begriffe verknüpfen lernt es erst, wenn es<lb/>
schon längst im Besitze des Wortes ist. Das Wort ist eben Nach-<lb/>
ahmung des Klangbildes, nicht des Gesichtsbildes oder Tast-<lb/>
bildes; und ein taub Geborener lernt zunächst eben so wenig<lb/>
sprechen, wie ein Blinder je zeichnen gelernt hat.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0024] Folge. Das ist die gewöhnliche Entstehung der Taubstummheit; das Kind hat keine Klangvorstellungen acquirirt, von denen aus Bewegungsvorstellungen ins Bewusstsein gerufen werden könnten. Durch das ausnahmslose Auftreten auch der Stummheit bei angeborener oder zeitig acquirirter Taubheit fällt ein höchst interessantes Streiflicht auf die Bedeutung der Gehörseindrücke für die Entwickelung der Sprache. Es ist nämlich ein allgemein verbreiteter, besonders von Philosophen und Sprachforschern (Steinthal) vertretener Irrtum, dass für die Entwickelung der Sprache das wichtigste Moment die Bildung des Begriffes, also die Summe der verschiedenen Sinneseindrücke eines Gegenstandes sei. Der Begriff schaffe sich die Sprache aus einem inneren Bedürfnisse heraus, ihre Entwickelung folge beim jetzigen Menschen denselben Gesetzen, nach denen sie sich beim Urmenschen ent- wickelte — die Sprache sei also nicht Nachahmung, sondern ein von selbst eintretendes Ereignis, wofür die Bedingungen, die Bildung der Begriffe, von allen Sinnesgebieten gleichmässig ge- liefert würden; eine innigere Beziehung eines Sinnesgebietes, nämlich des Gehörs, habe dabei nicht statt. Verhielte es sich so, so hätte der Blindgeborene viel mehr Ursache stumm zu werden als der taub Geborene, denn es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass das Auge von allen Sinnesgebieten dasjenige ist, welches bei weitem die meisten Merkmale der Gegenstände uns zuführt, also bei weitem am wichtigsten für die Bildung der Begriffe ist. Obwohl die Sinnesgebiete des Auges, des Tastorganes, des Geruches etc., kurz alle die für den Begriff wesentlichen ebenso mit den beim Sprechen innervirten Bewegungsvorstellungen durch einen Theil des Associationssystemes verbunden gedacht werden müssen, *) so hat doch nur die Bahn a a1 b eine so immense Wich- tigkeit für die Entwickelung der Sprache, weil auf ihr das Kind sprechen lernt. Die Hauptaufgabe des Kindes, welches sprechen lernt, ist die Nachahmung des gehörten Wortes; dasselbe mit einem bestimmten Begriffe verknüpfen lernt es erst, wenn es schon längst im Besitze des Wortes ist. Das Wort ist eben Nach- ahmung des Klangbildes, nicht des Gesichtsbildes oder Tast- bildes; und ein taub Geborener lernt zunächst eben so wenig sprechen, wie ein Blinder je zeichnen gelernt hat. *) Wie später gezeigt wird.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/24
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/24>, abgerufen am 18.04.2024.