hingegen sich in den Besiz alles des Guten, dessen uns die Natur fähig gemacht hat, zu sezen, und was er be- sizt, auf die angenehmste Art zu geniessen weiß; und dieser Glükselige allein ist der Weise.
Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, so hat dich die Natur mit den Fähigkeiten es zu seyn so reich- lich begabt, als mit den Vorzügen, deren kluger Ge- brauch uns die Gunstbezeugungen des Glüks zu verschaf- fen pflegt. Dem ungeachtet bist du weder glüklich, noch hast du die Mine es jemals zu werden, so lange du nicht gelernt haben wirst, von beyden einen andern Gebrauch zu machen als du bißher gethan hast. Du wendest die Stärke deiner Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnügen unempfindlich zu machen, und beschäftigest deine Empfindlichkeit mit unwesentlichen Ge- genständen, die du nur in der Einbildung siehest, und nur im Traume geniessest; die Vergnügungen, welche die Natur dem Menschen zugetheilt hat, sind für dich Schmerzen, weil du dir Gewalt anthun must sie zu entbehren; und du sezest dich allen Uebeln aus, die sie uns vermeiden lehrt, indem du anstatt einer nüzlichen Geschäftigkeit dein Leben mit den süssen Einbildungen wegträumest, womit du dir die Beraubung des würk- lichen Vergnügens zu ersezen suchst. Dein Uebel, mein lieber Callias, entspringt von einer Einbildungskraft, die dir ihre Geschöpfe in einem überirdischen Glanze zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falsches Licht über das was würklich ist ausbreitet; einer dichterischen Ein-
bildungs-
[Agath. I. Th.] F
Drittes Buch, erſtes Capitel.
hingegen ſich in den Beſiz alles des Guten, deſſen uns die Natur faͤhig gemacht hat, zu ſezen, und was er be- ſizt, auf die angenehmſte Art zu genieſſen weiß; und dieſer Gluͤkſelige allein iſt der Weiſe.
Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, ſo hat dich die Natur mit den Faͤhigkeiten es zu ſeyn ſo reich- lich begabt, als mit den Vorzuͤgen, deren kluger Ge- brauch uns die Gunſtbezeugungen des Gluͤks zu verſchaf- fen pflegt. Dem ungeachtet biſt du weder gluͤklich, noch haſt du die Mine es jemals zu werden, ſo lange du nicht gelernt haben wirſt, von beyden einen andern Gebrauch zu machen als du bißher gethan haſt. Du wendeſt die Staͤrke deiner Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnuͤgen unempfindlich zu machen, und beſchaͤftigeſt deine Empfindlichkeit mit unweſentlichen Ge- genſtaͤnden, die du nur in der Einbildung ſieheſt, und nur im Traume genieſſeſt; die Vergnuͤgungen, welche die Natur dem Menſchen zugetheilt hat, ſind fuͤr dich Schmerzen, weil du dir Gewalt anthun muſt ſie zu entbehren; und du ſezeſt dich allen Uebeln aus, die ſie uns vermeiden lehrt, indem du anſtatt einer nuͤzlichen Geſchaͤftigkeit dein Leben mit den ſuͤſſen Einbildungen wegtraͤumeſt, womit du dir die Beraubung des wuͤrk- lichen Vergnuͤgens zu erſezen ſuchſt. Dein Uebel, mein lieber Callias, entſpringt von einer Einbildungskraft, die dir ihre Geſchoͤpfe in einem uͤberirdiſchen Glanze zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falſches Licht uͤber das was wuͤrklich iſt ausbreitet; einer dichteriſchen Ein-
bildungs-
[Agath. I. Th.] F
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Drittes Buch, erſtes Capitel.
hingegen ſich in den Beſiz alles des Guten, deſſen uns
die Natur faͤhig gemacht hat, zu ſezen, und was er be-
ſizt, auf die angenehmſte Art zu genieſſen weiß; und
dieſer Gluͤkſelige allein iſt der Weiſe.
Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, ſo hat
dich die Natur mit den Faͤhigkeiten es zu ſeyn ſo reich-
lich begabt, als mit den Vorzuͤgen, deren kluger Ge-
brauch uns die Gunſtbezeugungen des Gluͤks zu verſchaf-
fen pflegt. Dem ungeachtet biſt du weder gluͤklich,
noch haſt du die Mine es jemals zu werden, ſo lange
du nicht gelernt haben wirſt, von beyden einen andern
Gebrauch zu machen als du bißher gethan haſt. Du
wendeſt die Staͤrke deiner Seele an, dein Herz gegen
das wahre Vergnuͤgen unempfindlich zu machen, und
beſchaͤftigeſt deine Empfindlichkeit mit unweſentlichen Ge-
genſtaͤnden, die du nur in der Einbildung ſieheſt, und
nur im Traume genieſſeſt; die Vergnuͤgungen, welche
die Natur dem Menſchen zugetheilt hat, ſind fuͤr dich
Schmerzen, weil du dir Gewalt anthun muſt ſie zu
entbehren; und du ſezeſt dich allen Uebeln aus, die ſie
uns vermeiden lehrt, indem du anſtatt einer nuͤzlichen
Geſchaͤftigkeit dein Leben mit den ſuͤſſen Einbildungen
wegtraͤumeſt, womit du dir die Beraubung des wuͤrk-
lichen Vergnuͤgens zu erſezen ſuchſt. Dein Uebel, mein
lieber Callias, entſpringt von einer Einbildungskraft, die
dir ihre Geſchoͤpfe in einem uͤberirdiſchen Glanze zeigt,
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/103>, abgerufen am 28.03.2024.
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