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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon,
desto schändlicher vorkam, weil sie den Aberglauben
zur Quelle hatte, machten seine Augen unempfindlich,
und erwekten ihm einen Ekel vor Reizungen, die mit der
Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verlohren hat-
ten. Er wollte zurük fliehen, aber es war unmöglich,
weil er in eben dem Augenblik, da er sie erblikte, von
ihnen bemerkt worden war. Der unerwartete Anblik
eines Jüngling, an einem Ort und bey einem Feste, wel-
ches kein männliches Aug entweyhen durfte, hemmte
plözlich den Lauf ihrer lärmenden Fröhlichkeit, um alle
ihre Aufmerksamkeit auf diese Erscheinung zu wenden.

Hier können wir unsern Lesern einen Umstand nicht
länger verhalten, der in diese ganze Geschichte einen
grossen Einfluß hat. Agathon war von einer so wun-
derbaren Schönheit, daß die Rubens und Girardons
seiner Zeit, weil sie die Hofnung aufgaben, eine voll-
kommnere Gestalt zu erfinden, oder aus den zerstreuten
Schönheiten der Natur zusammen zu setzen, die seinige
zum Muster nahmen, wenn sie den Apollo oder Bacchus
vorstellen wollten. Niemals hatte ihn ein weibliches
Aug erblikt, ohne die Schuld ihres Geschlechts zu be-
zahlen, welches die Natur für die Schönheit so empfind-
lich gemacht zu haben scheint, daß diese einzige Eigen-
schaft den meisten unter ihnen die Abwesenheit aller
übrigen verbirgt. Agathon hatte ihr in diesem Au-
genblik noch mehr zu danken; sie rettete ihn von dem
Schiksal des Pentheus. Seine Schönheit sezte diese

Mäna-

Agathon,
deſto ſchaͤndlicher vorkam, weil ſie den Aberglauben
zur Quelle hatte, machten ſeine Augen unempfindlich,
und erwekten ihm einen Ekel vor Reizungen, die mit der
Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verlohren hat-
ten. Er wollte zuruͤk fliehen, aber es war unmoͤglich,
weil er in eben dem Augenblik, da er ſie erblikte, von
ihnen bemerkt worden war. Der unerwartete Anblik
eines Juͤngling, an einem Ort und bey einem Feſte, wel-
ches kein maͤnnliches Aug entweyhen durfte, hemmte
ploͤzlich den Lauf ihrer laͤrmenden Froͤhlichkeit, um alle
ihre Aufmerkſamkeit auf dieſe Erſcheinung zu wenden.

Hier koͤnnen wir unſern Leſern einen Umſtand nicht
laͤnger verhalten, der in dieſe ganze Geſchichte einen
groſſen Einfluß hat. Agathon war von einer ſo wun-
derbaren Schoͤnheit, daß die Rubens und Girardons
ſeiner Zeit, weil ſie die Hofnung aufgaben, eine voll-
kommnere Geſtalt zu erfinden, oder aus den zerſtreuten
Schoͤnheiten der Natur zuſammen zu ſetzen, die ſeinige
zum Muſter nahmen, wenn ſie den Apollo oder Bacchus
vorſtellen wollten. Niemals hatte ihn ein weibliches
Aug erblikt, ohne die Schuld ihres Geſchlechts zu be-
zahlen, welches die Natur fuͤr die Schoͤnheit ſo empfind-
lich gemacht zu haben ſcheint, daß dieſe einzige Eigen-
ſchaft den meiſten unter ihnen die Abweſenheit aller
uͤbrigen verbirgt. Agathon hatte ihr in dieſem Au-
genblik noch mehr zu danken; ſie rettete ihn von dem
Schikſal des Pentheus. Seine Schoͤnheit ſezte dieſe

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[8/0030] Agathon, deſto ſchaͤndlicher vorkam, weil ſie den Aberglauben zur Quelle hatte, machten ſeine Augen unempfindlich, und erwekten ihm einen Ekel vor Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verlohren hat- ten. Er wollte zuruͤk fliehen, aber es war unmoͤglich, weil er in eben dem Augenblik, da er ſie erblikte, von ihnen bemerkt worden war. Der unerwartete Anblik eines Juͤngling, an einem Ort und bey einem Feſte, wel- ches kein maͤnnliches Aug entweyhen durfte, hemmte ploͤzlich den Lauf ihrer laͤrmenden Froͤhlichkeit, um alle ihre Aufmerkſamkeit auf dieſe Erſcheinung zu wenden. Hier koͤnnen wir unſern Leſern einen Umſtand nicht laͤnger verhalten, der in dieſe ganze Geſchichte einen groſſen Einfluß hat. Agathon war von einer ſo wun- derbaren Schoͤnheit, daß die Rubens und Girardons ſeiner Zeit, weil ſie die Hofnung aufgaben, eine voll- kommnere Geſtalt zu erfinden, oder aus den zerſtreuten Schoͤnheiten der Natur zuſammen zu ſetzen, die ſeinige zum Muſter nahmen, wenn ſie den Apollo oder Bacchus vorſtellen wollten. Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblikt, ohne die Schuld ihres Geſchlechts zu be- zahlen, welches die Natur fuͤr die Schoͤnheit ſo empfind- lich gemacht zu haben ſcheint, daß dieſe einzige Eigen- ſchaft den meiſten unter ihnen die Abweſenheit aller uͤbrigen verbirgt. Agathon hatte ihr in dieſem Au- genblik noch mehr zu danken; ſie rettete ihn von dem Schikſal des Pentheus. Seine Schoͤnheit ſezte dieſe Maͤna-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/30>, abgerufen am 19.04.2024.