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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Erstes Buch, achtes Capitel.
los machten. Sie bemächtigten sich hierauf unsers gan-
zen Schiffes, und begaben sich, so bald sich der Sturm
in etwas gelegt hatte, wieder in die See. Bey der
Theilung wurde ich einmüthig dem Hauptmann der
Räuber zuerkannt. Man bewunderte meine Gestalt oh-
ne mein Geschlecht zu muthmaßen. Allein diese Ver-
borgenheit half mir nicht so viel, als ich gehoft hatte.
Der Cilicier, den ich für meinen Herrn erkennen mußte,
verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenschaft
zu quälen. Er nannte mich Ganymedes, und schwur
bey allen Tritonen und Nereiden, daß ich ihm seyn
müßte, was dieser trojanische Prinz dem Jupiter gewe-
sen sey. Wie er sah, daß seine Schmeicheleyen ohne
Würkung waren, nöthigte er mich zulezt, ihm zu zeigen,
daß ich mein Leben gegen meine Ehre für nichts halte.
Dieses verschafte mir bisher einige Ruhe, und ich fieng
an, auf ein Mittel meiner Befreyung zu denken. Jch
gab dem Räuber zu verstehen, daß ich von einem ganz
andern Stande sey, als mein Sclavenmäßiger Anzug
zu erkennen gäbe, und bat ihn aufs inständigste mich
nach Athen zu führen, wo er für meine Erledigung er-
halten würde, was er nur fodern wollte. Allein über
diesen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfern-
te uns weiter von diesem geliebten Athen, welches,
wie ich glaubte, meinen Agathon in sich hielt. Wie
wenig dachte ich, daß eben diese Entfernung, über die
ich so untröstbar war, uns wieder zusammen bringen
würde? Aber, ach! in was für Umständen finden
wir uns wieder! Beyde der Freyheit beraubt, ohne

Freunde,
B 4

Erſtes Buch, achtes Capitel.
los machten. Sie bemaͤchtigten ſich hierauf unſers gan-
zen Schiffes, und begaben ſich, ſo bald ſich der Sturm
in etwas gelegt hatte, wieder in die See. Bey der
Theilung wurde ich einmuͤthig dem Hauptmann der
Raͤuber zuerkannt. Man bewunderte meine Geſtalt oh-
ne mein Geſchlecht zu muthmaßen. Allein dieſe Ver-
borgenheit half mir nicht ſo viel, als ich gehoft hatte.
Der Cilicier, den ich fuͤr meinen Herrn erkennen mußte,
verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenſchaft
zu quaͤlen. Er nannte mich Ganymedes, und ſchwur
bey allen Tritonen und Nereiden, daß ich ihm ſeyn
muͤßte, was dieſer trojaniſche Prinz dem Jupiter gewe-
ſen ſey. Wie er ſah, daß ſeine Schmeicheleyen ohne
Wuͤrkung waren, noͤthigte er mich zulezt, ihm zu zeigen,
daß ich mein Leben gegen meine Ehre fuͤr nichts halte.
Dieſes verſchafte mir bisher einige Ruhe, und ich fieng
an, auf ein Mittel meiner Befreyung zu denken. Jch
gab dem Raͤuber zu verſtehen, daß ich von einem ganz
andern Stande ſey, als mein Sclavenmaͤßiger Anzug
zu erkennen gaͤbe, und bat ihn aufs inſtaͤndigſte mich
nach Athen zu fuͤhren, wo er fuͤr meine Erledigung er-
halten wuͤrde, was er nur fodern wollte. Allein uͤber
dieſen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfern-
te uns weiter von dieſem geliebten Athen, welches,
wie ich glaubte, meinen Agathon in ſich hielt. Wie
wenig dachte ich, daß eben dieſe Entfernung, uͤber die
ich ſo untroͤſtbar war, uns wieder zuſammen bringen
wuͤrde? Aber, ach! in was fuͤr Umſtaͤnden finden
wir uns wieder! Beyde der Freyheit beraubt, ohne

Freunde,
B 4
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[23/0045] Erſtes Buch, achtes Capitel. los machten. Sie bemaͤchtigten ſich hierauf unſers gan- zen Schiffes, und begaben ſich, ſo bald ſich der Sturm in etwas gelegt hatte, wieder in die See. Bey der Theilung wurde ich einmuͤthig dem Hauptmann der Raͤuber zuerkannt. Man bewunderte meine Geſtalt oh- ne mein Geſchlecht zu muthmaßen. Allein dieſe Ver- borgenheit half mir nicht ſo viel, als ich gehoft hatte. Der Cilicier, den ich fuͤr meinen Herrn erkennen mußte, verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenſchaft zu quaͤlen. Er nannte mich Ganymedes, und ſchwur bey allen Tritonen und Nereiden, daß ich ihm ſeyn muͤßte, was dieſer trojaniſche Prinz dem Jupiter gewe- ſen ſey. Wie er ſah, daß ſeine Schmeicheleyen ohne Wuͤrkung waren, noͤthigte er mich zulezt, ihm zu zeigen, daß ich mein Leben gegen meine Ehre fuͤr nichts halte. Dieſes verſchafte mir bisher einige Ruhe, und ich fieng an, auf ein Mittel meiner Befreyung zu denken. Jch gab dem Raͤuber zu verſtehen, daß ich von einem ganz andern Stande ſey, als mein Sclavenmaͤßiger Anzug zu erkennen gaͤbe, und bat ihn aufs inſtaͤndigſte mich nach Athen zu fuͤhren, wo er fuͤr meine Erledigung er- halten wuͤrde, was er nur fodern wollte. Allein uͤber dieſen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfern- te uns weiter von dieſem geliebten Athen, welches, wie ich glaubte, meinen Agathon in ſich hielt. Wie wenig dachte ich, daß eben dieſe Entfernung, uͤber die ich ſo untroͤſtbar war, uns wieder zuſammen bringen wuͤrde? Aber, ach! in was fuͤr Umſtaͤnden finden wir uns wieder! Beyde der Freyheit beraubt, ohne Freunde, B 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/45>, abgerufen am 29.03.2024.