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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
Stellen seiner Rede von sich gegeben hatte. Allein die-
se mechanische Bewegung machte bald ernsthaftern Ge-
danken Plaz, und es fehlte wenig, so hätte er sich selbst
Vorwürfe darüber gemacht, daß er fähig gewesen
darüber zu lachen, daß ein so grosser Unterschied zwi-
schen Hippias und Agathon war. Ein Mensch, der so
lebt wie Hippias, dacht' er, muß so denken; und wer
so denkt wie Hippias würde unglüklich seyn, wenn er
nicht so leben könnte. Jch muß lachen, fuhr er mit
sich selbst fort, wenn ich an den Ton der Unfehlbar-
keit denke, womit er sprach. Dieser Ton ist mir nicht
so neu, als der weise Hippias glauben mag. Jch ha-
be Gerber und Sakträger zu Athen gekannt, die sich
nicht zu wenig däuchten, mit dem ganzen Volk in die-
sem Ton zu sprechen. Du glaubst mir etwas neues
gesagt zu haben, wenn du meine Denkungsart Schwär-
merey nennst, und mir mit der Gewißheit eines Pro-
pheten die Schiksale ankündigest, die sie mir zuziehen
wird. Wie sehr betrügst du dich, wenn du mich dadurch
erschrekt zu haben glaubst! O! Hippias, was ist das,
was du Glükseligkeit nennest? Niemals wirst du fähig
seyn, zu wissen was Glükseligkeit ist. Was du so nennst
ist Glükseligkeit, wie das Liebe ist, was dir deine Tän-
zerinnen einflössen. Du nennst die meinige Schwärme-
rey; laß mich immer ein Schwärmer seyn, und sey
du ein Weiser. Die Natur hat dir diese Empfindlich-
keit, diese innerlichen Sinnen versagt, die den Unter-
schied zwischen uns beyden machen; du bist einem Tau-
ben ähnlich, der die fröhlichen Bewegungen, welche

die

Agathon.
Stellen ſeiner Rede von ſich gegeben hatte. Allein die-
ſe mechaniſche Bewegung machte bald ernſthaftern Ge-
danken Plaz, und es fehlte wenig, ſo haͤtte er ſich ſelbſt
Vorwuͤrfe daruͤber gemacht, daß er faͤhig geweſen
daruͤber zu lachen, daß ein ſo groſſer Unterſchied zwi-
ſchen Hippias und Agathon war. Ein Menſch, der ſo
lebt wie Hippias, dacht’ er, muß ſo denken; und wer
ſo denkt wie Hippias wuͤrde ungluͤklich ſeyn, wenn er
nicht ſo leben koͤnnte. Jch muß lachen, fuhr er mit
ſich ſelbſt fort, wenn ich an den Ton der Unfehlbar-
keit denke, womit er ſprach. Dieſer Ton iſt mir nicht
ſo neu, als der weiſe Hippias glauben mag. Jch ha-
be Gerber und Saktraͤger zu Athen gekannt, die ſich
nicht zu wenig daͤuchten, mit dem ganzen Volk in die-
ſem Ton zu ſprechen. Du glaubſt mir etwas neues
geſagt zu haben, wenn du meine Denkungsart Schwaͤr-
merey nennſt, und mir mit der Gewißheit eines Pro-
pheten die Schikſale ankuͤndigeſt, die ſie mir zuziehen
wird. Wie ſehr betruͤgſt du dich, wenn du mich dadurch
erſchrekt zu haben glaubſt! O! Hippias, was iſt das,
was du Gluͤkſeligkeit nenneſt? Niemals wirſt du faͤhig
ſeyn, zu wiſſen was Gluͤkſeligkeit iſt. Was du ſo nennſt
iſt Gluͤkſeligkeit, wie das Liebe iſt, was dir deine Taͤn-
zerinnen einfloͤſſen. Du nennſt die meinige Schwaͤrme-
rey; laß mich immer ein Schwaͤrmer ſeyn, und ſey
du ein Weiſer. Die Natur hat dir dieſe Empfindlich-
keit, dieſe innerlichen Sinnen verſagt, die den Unter-
ſchied zwiſchen uns beyden machen; du biſt einem Tau-
ben aͤhnlich, der die froͤhlichen Bewegungen, welche

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[70/0092] Agathon. Stellen ſeiner Rede von ſich gegeben hatte. Allein die- ſe mechaniſche Bewegung machte bald ernſthaftern Ge- danken Plaz, und es fehlte wenig, ſo haͤtte er ſich ſelbſt Vorwuͤrfe daruͤber gemacht, daß er faͤhig geweſen daruͤber zu lachen, daß ein ſo groſſer Unterſchied zwi- ſchen Hippias und Agathon war. Ein Menſch, der ſo lebt wie Hippias, dacht’ er, muß ſo denken; und wer ſo denkt wie Hippias wuͤrde ungluͤklich ſeyn, wenn er nicht ſo leben koͤnnte. Jch muß lachen, fuhr er mit ſich ſelbſt fort, wenn ich an den Ton der Unfehlbar- keit denke, womit er ſprach. Dieſer Ton iſt mir nicht ſo neu, als der weiſe Hippias glauben mag. Jch ha- be Gerber und Saktraͤger zu Athen gekannt, die ſich nicht zu wenig daͤuchten, mit dem ganzen Volk in die- ſem Ton zu ſprechen. Du glaubſt mir etwas neues geſagt zu haben, wenn du meine Denkungsart Schwaͤr- merey nennſt, und mir mit der Gewißheit eines Pro- pheten die Schikſale ankuͤndigeſt, die ſie mir zuziehen wird. Wie ſehr betruͤgſt du dich, wenn du mich dadurch erſchrekt zu haben glaubſt! O! Hippias, was iſt das, was du Gluͤkſeligkeit nenneſt? Niemals wirſt du faͤhig ſeyn, zu wiſſen was Gluͤkſeligkeit iſt. Was du ſo nennſt iſt Gluͤkſeligkeit, wie das Liebe iſt, was dir deine Taͤn- zerinnen einfloͤſſen. Du nennſt die meinige Schwaͤrme- rey; laß mich immer ein Schwaͤrmer ſeyn, und ſey du ein Weiſer. Die Natur hat dir dieſe Empfindlich- keit, dieſe innerlichen Sinnen verſagt, die den Unter- ſchied zwiſchen uns beyden machen; du biſt einem Tau- ben aͤhnlich, der die froͤhlichen Bewegungen, welche die

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/92>, abgerufen am 28.03.2024.