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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, drittes Capitel.
mehr, als daß diejenige, für welche sein Sohn so hef-
tig eingenommen war, die Tochter seines liebsten Freun-
des seyn möchte; aber er wollte gewiß seyn, daß sie
es sey; und hiezu schien ihm das blosse Zeugnis eines
Fischer-Weibs zu wenig. Er veranstaltete es, daß er
Psychen und ihre angebliche Amme selbst zu sehen be-
kam; er glaubte, in der Gesichtsbildung der ersten ei-
nige Züge von ihrem Vater zu entdeken; und die Un-
terredung, die er mit ihr hatte, bestätigte den günsti-
gen Eindruk, den ihr Anblik auf sein Gemuth ge-
macht hatte. Er ließ sich ihre Geschichte mit allen Um-
ständen erzählen, und fand nun immer weniger Ursa-
che, an der Wahrheit dessen zu zweifeln, was sein
Sohn auf die blosse Aussage der Amme, ohne die min-
deste Untersuchung, für die ausgemachteste Wahrheit
hielt. Das Halsgeschmeide, welches Psyche in den
Händen der Pythia hatte zurüklassen müssen, schien
ihm allein noch abzugehen, um ihn gänzlich zu über-
zeugen. Er schikte deswegen einen seiner Vertrauten
nach Delphi ab; und die Pythia, da sie sah, daß ein
Mann von solcher Wichtigkeit sich des Schiksals ihrer
ehemaligen Sclavin annahm, machte keine Schwierig-
keiten, dieses Merkzeichen der Abkunft derselben auszu-
liefern. Nunmehr glaubte Archytas berechtigt zu seyn,
Psyche als die Tochter eines Freundes, dessen Anden-
ken ihm theuer war, anzusehen; und nun hatte er selbst
nichts angelegners, als sie je eher je lieber in seine Fa-
milie zu verpflanzen. Sie wurde also die Gemahlin
des glüklichen Critolaus; und diese Verbindung gab
natürlicher Weise neue Beweggründe, sich der Be-

freyung
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Eilftes Buch, drittes Capitel.
mehr, als daß diejenige, fuͤr welche ſein Sohn ſo hef-
tig eingenommen war, die Tochter ſeines liebſten Freun-
des ſeyn moͤchte; aber er wollte gewiß ſeyn, daß ſie
es ſey; und hiezu ſchien ihm das bloſſe Zeugnis eines
Fiſcher-Weibs zu wenig. Er veranſtaltete es, daß er
Pſychen und ihre angebliche Amme ſelbſt zu ſehen be-
kam; er glaubte, in der Geſichtsbildung der erſten ei-
nige Zuͤge von ihrem Vater zu entdeken; und die Un-
terredung, die er mit ihr hatte, beſtaͤtigte den guͤnſti-
gen Eindruk, den ihr Anblik auf ſein Gemuth ge-
macht hatte. Er ließ ſich ihre Geſchichte mit allen Um-
ſtaͤnden erzaͤhlen, und fand nun immer weniger Urſa-
che, an der Wahrheit deſſen zu zweifeln, was ſein
Sohn auf die bloſſe Ausſage der Amme, ohne die min-
deſte Unterſuchung, fuͤr die ausgemachteſte Wahrheit
hielt. Das Halsgeſchmeide, welches Pſyche in den
Haͤnden der Pythia hatte zuruͤklaſſen muͤſſen, ſchien
ihm allein noch abzugehen, um ihn gaͤnzlich zu uͤber-
zeugen. Er ſchikte deswegen einen ſeiner Vertrauten
nach Delphi ab; und die Pythia, da ſie ſah, daß ein
Mann von ſolcher Wichtigkeit ſich des Schikſals ihrer
ehemaligen Sclavin annahm, machte keine Schwierig-
keiten, dieſes Merkzeichen der Abkunft derſelben auszu-
liefern. Nunmehr glaubte Archytas berechtigt zu ſeyn,
Pſyche als die Tochter eines Freundes, deſſen Anden-
ken ihm theuer war, anzuſehen; und nun hatte er ſelbſt
nichts angelegners, als ſie je eher je lieber in ſeine Fa-
milie zu verpflanzen. Sie wurde alſo die Gemahlin
des gluͤklichen Critolaus; und dieſe Verbindung gab
natuͤrlicher Weiſe neue Beweggruͤnde, ſich der Be-

freyung
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[327/0329] Eilftes Buch, drittes Capitel. mehr, als daß diejenige, fuͤr welche ſein Sohn ſo hef- tig eingenommen war, die Tochter ſeines liebſten Freun- des ſeyn moͤchte; aber er wollte gewiß ſeyn, daß ſie es ſey; und hiezu ſchien ihm das bloſſe Zeugnis eines Fiſcher-Weibs zu wenig. Er veranſtaltete es, daß er Pſychen und ihre angebliche Amme ſelbſt zu ſehen be- kam; er glaubte, in der Geſichtsbildung der erſten ei- nige Zuͤge von ihrem Vater zu entdeken; und die Un- terredung, die er mit ihr hatte, beſtaͤtigte den guͤnſti- gen Eindruk, den ihr Anblik auf ſein Gemuth ge- macht hatte. Er ließ ſich ihre Geſchichte mit allen Um- ſtaͤnden erzaͤhlen, und fand nun immer weniger Urſa- che, an der Wahrheit deſſen zu zweifeln, was ſein Sohn auf die bloſſe Ausſage der Amme, ohne die min- deſte Unterſuchung, fuͤr die ausgemachteſte Wahrheit hielt. Das Halsgeſchmeide, welches Pſyche in den Haͤnden der Pythia hatte zuruͤklaſſen muͤſſen, ſchien ihm allein noch abzugehen, um ihn gaͤnzlich zu uͤber- zeugen. Er ſchikte deswegen einen ſeiner Vertrauten nach Delphi ab; und die Pythia, da ſie ſah, daß ein Mann von ſolcher Wichtigkeit ſich des Schikſals ihrer ehemaligen Sclavin annahm, machte keine Schwierig- keiten, dieſes Merkzeichen der Abkunft derſelben auszu- liefern. Nunmehr glaubte Archytas berechtigt zu ſeyn, Pſyche als die Tochter eines Freundes, deſſen Anden- ken ihm theuer war, anzuſehen; und nun hatte er ſelbſt nichts angelegners, als ſie je eher je lieber in ſeine Fa- milie zu verpflanzen. Sie wurde alſo die Gemahlin des gluͤklichen Critolaus; und dieſe Verbindung gab natuͤrlicher Weiſe neue Beweggruͤnde, ſich der Be- freyung X 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/329>, abgerufen am 29.03.2024.