Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Achtes Buch, sechstes Capitel.
den; wir unsers Orts haben in keinerley Absicht eini-
ges Jnteresse ihn besser zu machen, als er in der That
war; wir geben ihn für das was er ist; wir werden
mit der bisher beobachteten historischen Treue fortfah-
ren, seine Geschichte zu erzählen; und versichern ein für
allemal, daß wir nicht dafür können, wenn er nicht alle-
mal so handelt, wie wir vielleicht selbst hätten wünschen
mögen, daß er gehandelt hätte.

Er hatte während seiner Farth nach Sicilien, welche
durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit
genung, Betrachtungen über das, was zu Smyrna mit
ihm vorgegangen war anzustellen. Wie? ruffen hier
einige Leser, schon wieder Betrachtungen? Allerdings,
meine Herren; und in seiner Situation würde es ihm
nicht zu vergeben gewesen seyn, wenn er keine ange-
stellt hätte. Desto schlimmer für euch, wenn ihr, bey ge-
wissen Gelegenheiten, nicht so gerne mit euch selbst redet
als Agathon; vielleicht würdet ihr sehr wol thun, ihm
diese kleine Gewohnheit abzulernen.

Es ist für einen Agathon nicht so leicht, als für einen
jeden andern, die Erinnerung einer begangenen Thorheit
von sich abzuschütteln. Braucht es mehr als einen ein-
zigen Fehler, um den Glanz des schönsten Lebens zu
verdunkeln? Wie verdrießlich, wenn wir an einem
Meisterstüke der Kunst, an einem Gemählde oder Ge-
dichte zum Exempel, Fehler finden, welche sich nicht

verbessern
D 5

Achtes Buch, ſechstes Capitel.
den; wir unſers Orts haben in keinerley Abſicht eini-
ges Jntereſſe ihn beſſer zu machen, als er in der That
war; wir geben ihn fuͤr das was er iſt; wir werden
mit der bisher beobachteten hiſtoriſchen Treue fortfah-
ren, ſeine Geſchichte zu erzaͤhlen; und verſichern ein fuͤr
allemal, daß wir nicht dafuͤr koͤnnen, wenn er nicht alle-
mal ſo handelt, wie wir vielleicht ſelbſt haͤtten wuͤnſchen
moͤgen, daß er gehandelt haͤtte.

Er hatte waͤhrend ſeiner Farth nach Sicilien, welche
durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit
genung, Betrachtungen uͤber das, was zu Smyrna mit
ihm vorgegangen war anzuſtellen. Wie? ruffen hier
einige Leſer, ſchon wieder Betrachtungen? Allerdings,
meine Herren; und in ſeiner Situation wuͤrde es ihm
nicht zu vergeben geweſen ſeyn, wenn er keine ange-
ſtellt haͤtte. Deſto ſchlimmer fuͤr euch, wenn ihr, bey ge-
wiſſen Gelegenheiten, nicht ſo gerne mit euch ſelbſt redet
als Agathon; vielleicht wuͤrdet ihr ſehr wol thun, ihm
dieſe kleine Gewohnheit abzulernen.

Es iſt fuͤr einen Agathon nicht ſo leicht, als fuͤr einen
jeden andern, die Erinnerung einer begangenen Thorheit
von ſich abzuſchuͤtteln. Braucht es mehr als einen ein-
zigen Fehler, um den Glanz des ſchoͤnſten Lebens zu
verdunkeln? Wie verdrießlich, wenn wir an einem
Meiſterſtuͤke der Kunſt, an einem Gemaͤhlde oder Ge-
dichte zum Exempel, Fehler finden, welche ſich nicht

verbeſſern
D 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0059" n="57"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Achtes Buch, &#x017F;echstes Capitel.</hi></fw><lb/>
den; wir un&#x017F;ers Orts haben in keinerley Ab&#x017F;icht eini-<lb/>
ges Jntere&#x017F;&#x017F;e ihn be&#x017F;&#x017F;er zu machen, als er in der That<lb/>
war; wir geben ihn fu&#x0364;r das was er i&#x017F;t; wir werden<lb/>
mit der bisher beobachteten hi&#x017F;tori&#x017F;chen Treue fortfah-<lb/>
ren, &#x017F;eine Ge&#x017F;chichte zu erza&#x0364;hlen; und ver&#x017F;ichern ein fu&#x0364;r<lb/>
allemal, daß wir nicht dafu&#x0364;r ko&#x0364;nnen, wenn er nicht alle-<lb/>
mal &#x017F;o handelt, wie wir vielleicht &#x017F;elb&#x017F;t ha&#x0364;tten wu&#x0364;n&#x017F;chen<lb/>
mo&#x0364;gen, daß er gehandelt ha&#x0364;tte.</p><lb/>
            <p>Er hatte wa&#x0364;hrend &#x017F;einer Farth nach Sicilien, welche<lb/>
durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit<lb/>
genung, Betrachtungen u&#x0364;ber das, was zu Smyrna mit<lb/>
ihm vorgegangen war anzu&#x017F;tellen. Wie? ruffen hier<lb/>
einige Le&#x017F;er, &#x017F;chon wieder Betrachtungen? Allerdings,<lb/>
meine Herren; und in &#x017F;einer Situation wu&#x0364;rde es ihm<lb/>
nicht zu vergeben gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, wenn er keine ange-<lb/>
&#x017F;tellt ha&#x0364;tte. De&#x017F;to &#x017F;chlimmer fu&#x0364;r euch, wenn ihr, bey ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Gelegenheiten, nicht &#x017F;o gerne mit euch &#x017F;elb&#x017F;t redet<lb/>
als Agathon; vielleicht wu&#x0364;rdet ihr &#x017F;ehr wol thun, ihm<lb/>
die&#x017F;e kleine Gewohnheit abzulernen.</p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t fu&#x0364;r einen Agathon nicht &#x017F;o leicht, als fu&#x0364;r einen<lb/>
jeden andern, die Erinnerung einer begangenen Thorheit<lb/>
von &#x017F;ich abzu&#x017F;chu&#x0364;tteln. Braucht es mehr als einen ein-<lb/>
zigen Fehler, um den Glanz des &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Lebens zu<lb/>
verdunkeln? Wie verdrießlich, wenn wir an einem<lb/>
Mei&#x017F;ter&#x017F;tu&#x0364;ke der Kun&#x017F;t, an einem Gema&#x0364;hlde oder Ge-<lb/>
dichte zum Exempel, Fehler finden, welche &#x017F;ich nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 5</fw><fw place="bottom" type="catch">verbe&#x017F;&#x017F;ern</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0059] Achtes Buch, ſechstes Capitel. den; wir unſers Orts haben in keinerley Abſicht eini- ges Jntereſſe ihn beſſer zu machen, als er in der That war; wir geben ihn fuͤr das was er iſt; wir werden mit der bisher beobachteten hiſtoriſchen Treue fortfah- ren, ſeine Geſchichte zu erzaͤhlen; und verſichern ein fuͤr allemal, daß wir nicht dafuͤr koͤnnen, wenn er nicht alle- mal ſo handelt, wie wir vielleicht ſelbſt haͤtten wuͤnſchen moͤgen, daß er gehandelt haͤtte. Er hatte waͤhrend ſeiner Farth nach Sicilien, welche durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit genung, Betrachtungen uͤber das, was zu Smyrna mit ihm vorgegangen war anzuſtellen. Wie? ruffen hier einige Leſer, ſchon wieder Betrachtungen? Allerdings, meine Herren; und in ſeiner Situation wuͤrde es ihm nicht zu vergeben geweſen ſeyn, wenn er keine ange- ſtellt haͤtte. Deſto ſchlimmer fuͤr euch, wenn ihr, bey ge- wiſſen Gelegenheiten, nicht ſo gerne mit euch ſelbſt redet als Agathon; vielleicht wuͤrdet ihr ſehr wol thun, ihm dieſe kleine Gewohnheit abzulernen. Es iſt fuͤr einen Agathon nicht ſo leicht, als fuͤr einen jeden andern, die Erinnerung einer begangenen Thorheit von ſich abzuſchuͤtteln. Braucht es mehr als einen ein- zigen Fehler, um den Glanz des ſchoͤnſten Lebens zu verdunkeln? Wie verdrießlich, wenn wir an einem Meiſterſtuͤke der Kunſt, an einem Gemaͤhlde oder Ge- dichte zum Exempel, Fehler finden, welche ſich nicht verbeſſern D 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/59
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/59>, abgerufen am 29.03.2024.