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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
von mehr als zwölf Jahren hatte dieses beyden zur Ge-
wohnheit gemacht. Hiezu kam noch die natürliche Ver-
wandtschaft, welche unter Leuten von Wiz und feiner
Lebens-Art obwaltet, die Uebereinstimmung ihrer Den-
kungs-Art, und Neigungen; vielleicht auch die beson-
dere Vorrechte, die er, der gemeinen Meynung nach, eine
Zeit lang bey ihr genossen. Alles dieses hatte diese Art
von Vertraulichkeit unter ihnen hervorgebracht, welche
von den Weltleuten, aus einem Mißverstande dessen sie
sich nur nicht vermuthen, für Freundschaft gehalten
wird, und auch in der That alle Freundschaft, deren
sie fähig sind, ausmacht; ob es gleich gemeiniglich eine
bloß mechanische Folge zufälliger Umstände, und im
Grunde nichts bessers als eine stillschweigende Ueberein-
kommniß ist, einander so lange gewogen zu seyn, als es
einem oder dem andern Theil gelegen seyn werde; und
daher auch ordentlicher Weise keinen Augenblik länger
daurt, als bis sie auf irgend eine Probe, wobey sich
die Eigenliebe einige Gewalt anthun müßte, gesezt wer-
den wollte.

Die schöne Danae, deren Herz unendlich mal besser
war als des Sophisten seines, gieng inzwischen ganz
aufrichtig zu Werke, indem sie in die vermeynte Freund-
schaft dieses Mannes nicht den mindesten Zweifel sezte.
Es ist wahr, er hatte einen guten Theil von ihrer Hoch-
achtung, und also zugleich von ihrem Vertrauen verloh-
ren, seitdem die Liebe so sonderbare Veränderungen in

ihrem

Agathon.
von mehr als zwoͤlf Jahren hatte dieſes beyden zur Ge-
wohnheit gemacht. Hiezu kam noch die natuͤrliche Ver-
wandtſchaft, welche unter Leuten von Wiz und feiner
Lebens-Art obwaltet, die Uebereinſtimmung ihrer Den-
kungs-Art, und Neigungen; vielleicht auch die beſon-
dere Vorrechte, die er, der gemeinen Meynung nach, eine
Zeit lang bey ihr genoſſen. Alles dieſes hatte dieſe Art
von Vertraulichkeit unter ihnen hervorgebracht, welche
von den Weltleuten, aus einem Mißverſtande deſſen ſie
ſich nur nicht vermuthen, fuͤr Freundſchaft gehalten
wird, und auch in der That alle Freundſchaft, deren
ſie faͤhig ſind, ausmacht; ob es gleich gemeiniglich eine
bloß mechaniſche Folge zufaͤlliger Umſtaͤnde, und im
Grunde nichts beſſers als eine ſtillſchweigende Ueberein-
kommniß iſt, einander ſo lange gewogen zu ſeyn, als es
einem oder dem andern Theil gelegen ſeyn werde; und
daher auch ordentlicher Weiſe keinen Augenblik laͤnger
daurt, als bis ſie auf irgend eine Probe, wobey ſich
die Eigenliebe einige Gewalt anthun muͤßte, geſezt wer-
den wollte.

Die ſchoͤne Danae, deren Herz unendlich mal beſſer
war als des Sophiſten ſeines, gieng inzwiſchen ganz
aufrichtig zu Werke, indem ſie in die vermeynte Freund-
ſchaft dieſes Mannes nicht den mindeſten Zweifel ſezte.
Es iſt wahr, er hatte einen guten Theil von ihrer Hoch-
achtung, und alſo zugleich von ihrem Vertrauen verloh-
ren, ſeitdem die Liebe ſo ſonderbare Veraͤnderungen in

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[4/0006] Agathon. von mehr als zwoͤlf Jahren hatte dieſes beyden zur Ge- wohnheit gemacht. Hiezu kam noch die natuͤrliche Ver- wandtſchaft, welche unter Leuten von Wiz und feiner Lebens-Art obwaltet, die Uebereinſtimmung ihrer Den- kungs-Art, und Neigungen; vielleicht auch die beſon- dere Vorrechte, die er, der gemeinen Meynung nach, eine Zeit lang bey ihr genoſſen. Alles dieſes hatte dieſe Art von Vertraulichkeit unter ihnen hervorgebracht, welche von den Weltleuten, aus einem Mißverſtande deſſen ſie ſich nur nicht vermuthen, fuͤr Freundſchaft gehalten wird, und auch in der That alle Freundſchaft, deren ſie faͤhig ſind, ausmacht; ob es gleich gemeiniglich eine bloß mechaniſche Folge zufaͤlliger Umſtaͤnde, und im Grunde nichts beſſers als eine ſtillſchweigende Ueberein- kommniß iſt, einander ſo lange gewogen zu ſeyn, als es einem oder dem andern Theil gelegen ſeyn werde; und daher auch ordentlicher Weiſe keinen Augenblik laͤnger daurt, als bis ſie auf irgend eine Probe, wobey ſich die Eigenliebe einige Gewalt anthun muͤßte, geſezt wer- den wollte. Die ſchoͤne Danae, deren Herz unendlich mal beſſer war als des Sophiſten ſeines, gieng inzwiſchen ganz aufrichtig zu Werke, indem ſie in die vermeynte Freund- ſchaft dieſes Mannes nicht den mindeſten Zweifel ſezte. Es iſt wahr, er hatte einen guten Theil von ihrer Hoch- achtung, und alſo zugleich von ihrem Vertrauen verloh- ren, ſeitdem die Liebe ſo ſonderbare Veraͤnderungen in ihrem

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/6>, abgerufen am 29.03.2024.