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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, siebentes Capitel.
mühet gewesen ist, zu einer heroischen Tugend zu erhe-
ben; von dieser wußten sie eben so wenig als von der
weinerlich-comischen, der abentheurlichen Hirngeburt
einiger Neuerer, meistens weiblicher, Scribenten,
welche noch über die Begriffe der ritterlichen Zeiten raf-
finirt, und uns durch ganze Bände eine Liebe gemahlt
haben, die sich von stillschweigendem Anschauen, von
Seufzern und Thränen nährt, immer unglüklich und
doch selbst ohne einen Schimmer von Hofnung immer
gleich standhaft ist. Von einer so abgeschmakten, so
unmännlichen, und mit dem Heldenthum, womit man
sie verbinden will, so lächerlich abstechenden Liebe wußte
diese geistreiche Nation nichts, aus deren schöner und
lachender Einbildungskraft die Göttin der Liebe, die
Grazien, und so viele andre Götter der Fröhlichkeit her-
vorgegangen waren. Sie kannten nur die Liebe, welche
scherzt, küßt und glüklich ist; oder, richtiger zu reden,
diese allein schien ihnen, unter gehörigen Einschränkun-
gen, der Natur gemäß, anständig und unschuldig. Die-
jenige, welche sich mit allen Symptomen eines fiebri-
schen Paroxysmus der ganzen Seele bemächtiget, war
in ihren Augen eine von den gefährlichsten Leidenschaf-
ten, eine Feindin der Tugend, die Störerin der häuß-
lichen Ordnung, die Mutter der verderblichsten Aus-
schweiffungen und der häßlichsten Laster. Wir finden
wenige Beyspiele davon in ihrer Geschichte; und diese
Beyspiele sehen wir auf ihrem tragischen Theater mit
Farben geschildert, welche den allgemeinen Abscheu er-
weken mußten; so wie hingegen ihre Comödie keine

andre

Achtes Buch, ſiebentes Capitel.
muͤhet geweſen iſt, zu einer heroiſchen Tugend zu erhe-
ben; von dieſer wußten ſie eben ſo wenig als von der
weinerlich-comiſchen, der abentheurlichen Hirngeburt
einiger Neuerer, meiſtens weiblicher, Scribenten,
welche noch uͤber die Begriffe der ritterlichen Zeiten raf-
finirt, und uns durch ganze Baͤnde eine Liebe gemahlt
haben, die ſich von ſtillſchweigendem Anſchauen, von
Seufzern und Thraͤnen naͤhrt, immer ungluͤklich und
doch ſelbſt ohne einen Schimmer von Hofnung immer
gleich ſtandhaft iſt. Von einer ſo abgeſchmakten, ſo
unmaͤnnlichen, und mit dem Heldenthum, womit man
ſie verbinden will, ſo laͤcherlich abſtechenden Liebe wußte
dieſe geiſtreiche Nation nichts, aus deren ſchoͤner und
lachender Einbildungskraft die Goͤttin der Liebe, die
Grazien, und ſo viele andre Goͤtter der Froͤhlichkeit her-
vorgegangen waren. Sie kannten nur die Liebe, welche
ſcherzt, kuͤßt und gluͤklich iſt; oder, richtiger zu reden,
dieſe allein ſchien ihnen, unter gehoͤrigen Einſchraͤnkun-
gen, der Natur gemaͤß, anſtaͤndig und unſchuldig. Die-
jenige, welche ſich mit allen Symptomen eines fiebri-
ſchen Paroxyſmus der ganzen Seele bemaͤchtiget, war
in ihren Augen eine von den gefaͤhrlichſten Leidenſchaf-
ten, eine Feindin der Tugend, die Stoͤrerin der haͤuß-
lichen Ordnung, die Mutter der verderblichſten Aus-
ſchweiffungen und der haͤßlichſten Laſter. Wir finden
wenige Beyſpiele davon in ihrer Geſchichte; und dieſe
Beyſpiele ſehen wir auf ihrem tragiſchen Theater mit
Farben geſchildert, welche den allgemeinen Abſcheu er-
weken mußten; ſo wie hingegen ihre Comoͤdie keine

andre
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[75/0077] Achtes Buch, ſiebentes Capitel. muͤhet geweſen iſt, zu einer heroiſchen Tugend zu erhe- ben; von dieſer wußten ſie eben ſo wenig als von der weinerlich-comiſchen, der abentheurlichen Hirngeburt einiger Neuerer, meiſtens weiblicher, Scribenten, welche noch uͤber die Begriffe der ritterlichen Zeiten raf- finirt, und uns durch ganze Baͤnde eine Liebe gemahlt haben, die ſich von ſtillſchweigendem Anſchauen, von Seufzern und Thraͤnen naͤhrt, immer ungluͤklich und doch ſelbſt ohne einen Schimmer von Hofnung immer gleich ſtandhaft iſt. Von einer ſo abgeſchmakten, ſo unmaͤnnlichen, und mit dem Heldenthum, womit man ſie verbinden will, ſo laͤcherlich abſtechenden Liebe wußte dieſe geiſtreiche Nation nichts, aus deren ſchoͤner und lachender Einbildungskraft die Goͤttin der Liebe, die Grazien, und ſo viele andre Goͤtter der Froͤhlichkeit her- vorgegangen waren. Sie kannten nur die Liebe, welche ſcherzt, kuͤßt und gluͤklich iſt; oder, richtiger zu reden, dieſe allein ſchien ihnen, unter gehoͤrigen Einſchraͤnkun- gen, der Natur gemaͤß, anſtaͤndig und unſchuldig. Die- jenige, welche ſich mit allen Symptomen eines fiebri- ſchen Paroxyſmus der ganzen Seele bemaͤchtiget, war in ihren Augen eine von den gefaͤhrlichſten Leidenſchaf- ten, eine Feindin der Tugend, die Stoͤrerin der haͤuß- lichen Ordnung, die Mutter der verderblichſten Aus- ſchweiffungen und der haͤßlichſten Laſter. Wir finden wenige Beyſpiele davon in ihrer Geſchichte; und dieſe Beyſpiele ſehen wir auf ihrem tragiſchen Theater mit Farben geſchildert, welche den allgemeinen Abſcheu er- weken mußten; ſo wie hingegen ihre Comoͤdie keine andre

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/77>, abgerufen am 28.03.2024.