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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, siebentes Capitel.
mehr würklich von dergleichen in allen Buchläden. Aber
Agathon hatte grössere und feinere Begriffe von der Tu-
gend --- Die Begriffe einer gewissen idealischen Vollkom-
menheit waren zu sehr mit den Grundzügen sein er
Seele verwebt, als daß er sie sobald verliehren konnte,
oder vielleicht jemals verliehren wird. Was ist für eine
delicate Seele Liebe ohne Schwärmerey? Ohne diese
Zärtlichkeit der Empfindungen, diese Sympathie welche
ihre Freuden vervielfältiget, verfeinert, veredelt? Was
sind die Wollüste der Sinnen, ohne Grazien und Mu-
sen? --- Das Socratische System über die Liebe mag für
viele gut seyn; aber es taugt nicht für die Agathons.
Agathon hätte diese Art zu lieben, wie er die schöne
Danae geliebt hatte, und wie er von ihr geliebt wor-
den war, gerne mit der Tugend verbinden mögen; und
von diesem Wunsch sah er alle Schwierigkeiten ein.
Endlich däuchte ihn, es komme alles auf den Gegen-
stand an; und hier erinnerte ihn sein Herz wieder an
seine geliebte Psyche. Jhr Bild stellte sich ihm mit
einer Wahrheit und Lebhaftigkeit dar, wie es ihm seit
langer Zeit, seinen Traum ausgenommen, niemals
vorgekommen war. Er erröthete vor diesem Bilde,
wie er vor der gegenwärtigen Psyche selbst erröthet ha-
ben würde; aber er empfand mit einem Vergnügen,
wovon das überlegte Bewustseyn ein neues Vergnügen
war, daß sein Herz, ohne nur mit einem einzigen Fa-
den an Danae zu hangen, wieder zu seiner ersten Liebe
zurükkehrte. Seine wieder ruhige Phantasie spiegelte
ihm, wie ein klarer tiefer Brunnen die Erinnerungen

der
[Agath. II. Th.] F

Achtes Buch, ſiebentes Capitel.
mehr wuͤrklich von dergleichen in allen Buchlaͤden. Aber
Agathon hatte groͤſſere und feinere Begriffe von der Tu-
gend ‒‒‒ Die Begriffe einer gewiſſen idealiſchen Vollkom-
menheit waren zu ſehr mit den Grundzuͤgen ſein er
Seele verwebt, als daß er ſie ſobald verliehren konnte,
oder vielleicht jemals verliehren wird. Was iſt fuͤr eine
delicate Seele Liebe ohne Schwaͤrmerey? Ohne dieſe
Zaͤrtlichkeit der Empfindungen, dieſe Sympathie welche
ihre Freuden vervielfaͤltiget, verfeinert, veredelt? Was
ſind die Wolluͤſte der Sinnen, ohne Grazien und Mu-
ſen? ‒‒‒ Das Socratiſche Syſtem uͤber die Liebe mag fuͤr
viele gut ſeyn; aber es taugt nicht fuͤr die Agathons.
Agathon haͤtte dieſe Art zu lieben, wie er die ſchoͤne
Danae geliebt hatte, und wie er von ihr geliebt wor-
den war, gerne mit der Tugend verbinden moͤgen; und
von dieſem Wunſch ſah er alle Schwierigkeiten ein.
Endlich daͤuchte ihn, es komme alles auf den Gegen-
ſtand an; und hier erinnerte ihn ſein Herz wieder an
ſeine geliebte Pſyche. Jhr Bild ſtellte ſich ihm mit
einer Wahrheit und Lebhaftigkeit dar, wie es ihm ſeit
langer Zeit, ſeinen Traum ausgenommen, niemals
vorgekommen war. Er erroͤthete vor dieſem Bilde,
wie er vor der gegenwaͤrtigen Pſyche ſelbſt erroͤthet ha-
ben wuͤrde; aber er empfand mit einem Vergnuͤgen,
wovon das uͤberlegte Bewuſtſeyn ein neues Vergnuͤgen
war, daß ſein Herz, ohne nur mit einem einzigen Fa-
den an Danae zu hangen, wieder zu ſeiner erſten Liebe
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ihm, wie ein klarer tiefer Brunnen die Erinnerungen

der
[Agath. II. Th.] F
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[81/0083] Achtes Buch, ſiebentes Capitel. mehr wuͤrklich von dergleichen in allen Buchlaͤden. Aber Agathon hatte groͤſſere und feinere Begriffe von der Tu- gend ‒‒‒ Die Begriffe einer gewiſſen idealiſchen Vollkom- menheit waren zu ſehr mit den Grundzuͤgen ſein er Seele verwebt, als daß er ſie ſobald verliehren konnte, oder vielleicht jemals verliehren wird. Was iſt fuͤr eine delicate Seele Liebe ohne Schwaͤrmerey? Ohne dieſe Zaͤrtlichkeit der Empfindungen, dieſe Sympathie welche ihre Freuden vervielfaͤltiget, verfeinert, veredelt? Was ſind die Wolluͤſte der Sinnen, ohne Grazien und Mu- ſen? ‒‒‒ Das Socratiſche Syſtem uͤber die Liebe mag fuͤr viele gut ſeyn; aber es taugt nicht fuͤr die Agathons. Agathon haͤtte dieſe Art zu lieben, wie er die ſchoͤne Danae geliebt hatte, und wie er von ihr geliebt wor- den war, gerne mit der Tugend verbinden moͤgen; und von dieſem Wunſch ſah er alle Schwierigkeiten ein. Endlich daͤuchte ihn, es komme alles auf den Gegen- ſtand an; und hier erinnerte ihn ſein Herz wieder an ſeine geliebte Pſyche. Jhr Bild ſtellte ſich ihm mit einer Wahrheit und Lebhaftigkeit dar, wie es ihm ſeit langer Zeit, ſeinen Traum ausgenommen, niemals vorgekommen war. Er erroͤthete vor dieſem Bilde, wie er vor der gegenwaͤrtigen Pſyche ſelbſt erroͤthet ha- ben wuͤrde; aber er empfand mit einem Vergnuͤgen, wovon das uͤberlegte Bewuſtſeyn ein neues Vergnuͤgen war, daß ſein Herz, ohne nur mit einem einzigen Fa- den an Danae zu hangen, wieder zu ſeiner erſten Liebe zuruͤkkehrte. Seine wieder ruhige Phantaſie ſpiegelte ihm, wie ein klarer tiefer Brunnen die Erinnerungen der [Agath. II. Th.] F

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/83>, abgerufen am 28.03.2024.