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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Athen in der tyrannenzeit.
solide baute jene zeit, wie gewaltig sind die fortschritte der bildenden
künste, und wie tief im volke geht jene anspruchsvolle lebensführung,
da töpfer walker und schuster an ihr teil nahmen. man sieht, wie viel
da war, das die Perser zerschlagen und rauben konnten: die opfer von
480 lernt man schätzen, und es wächst sowol die achtung vor Peisistratos
wie die bewunderung der freien bürgerschaft.

Doch das ist eine aufgabe, die wirklich nur ein archaeologe lösen
kann, einer dem die funde auch in allen einzelheiten rede stehn, und weil
die aufgabe gestellt ist, wird sich auch die archaeologische jugend über
die unfruchtbaren stilriechereien und die wirklich antiquirte suche nach
künstlernamen erheben. in um so mislicherer lage ist jeder der die
ereignisse jener zeit zu schildern unternimmt und nicht den Herodot
paraphrasiren will. sie sind verschollen, und was man einzelnes hört,
belehrt wenig, eben weil es nichts als nakte facta bringt. wir wissen
es nicht, wie sich die situation Athens um 520 v. Chr. gebildet hat:
aber von dieser situation kann man sich einigermassen ein bild machen.

Als nach der gesetzgebung Solons statt des gehofften friedens der
parteihader nur gehässiger entbrann, war es das grösste glück, dass sich
der zum herrn machte, der seine tüchtigkeit durch die erwerbung von

bei einzelnen personen oder in abgelegenen gegenden hat sich die mode des sechsten
jahrhunderts noch mehrere generationen oder auch dauernd erhalten, nicht ohne
dass misverständnisse in derselben richtung vorkamen. Asien hat sich den neuen
athenischen mustern immer erst in einigem abstande gefügt, und deshalb den vor-
wurf der truphe schon von den Athenern des fünften jahrhunderts erfahren. inner-
lich hat es den umschwung des empfindens nie mitgemacht. so haben sich falsche
werturteile über die archaische zeit gebildet. nun trieb aber der gegensatz zu den
barbaren dazu die einfachheit von haar und barttracht, des kurzen hemdes und des
simplen überwurfes für echthellenisch auszugeben, also für uralt, und dann für do-
risch, ein wort, das den accent ins tüchtige, derbe, altangestammte zuerst in der
musik erhalten hatte (schon vor 500): das hat dann auch falsche geschichtliche ur-
teile erzeugt. die besten zeugen für die volksstimmung sind immer die dichter,
um so besser, je grösser sie sind. in dem bilde, das das sechste jahrhundert schon
von Dionysos geschaffen hatte, und das die tragoedie, sein spiel, fest hielt, war
jene alte tracht an haar und bart und kleidung festgehalten, und die art, wie der
gott sich offenbarte und seine verehrer sich benehmen hiess, schien die truphe nur
noch mehr zu bestätigen. diesen conflict mit den modernen, kräftigen, dorischen
anschauungen empfand Aischylos innerlich, und doch war er dionysischer dichter.
so verkörperte er diese gegensätze in seiner Lykurgie; die alte fabel hatte eine neue
bedeutung gewonnen. da zuerst nimmt der götterfeind an der weibischen tracht
des gottes anstoss, zieht freche folgerungen und muss es büssen. Euripides hat
das schon als etwas fertiges überkommen; für ihn hat es keine innerliche bedeu-
tung mehr.

Athen in der tyrannenzeit.
solide baute jene zeit, wie gewaltig sind die fortschritte der bildenden
künste, und wie tief im volke geht jene anspruchsvolle lebensführung,
da töpfer walker und schuster an ihr teil nahmen. man sieht, wie viel
da war, das die Perser zerschlagen und rauben konnten: die opfer von
480 lernt man schätzen, und es wächst sowol die achtung vor Peisistratos
wie die bewunderung der freien bürgerschaft.

Doch das ist eine aufgabe, die wirklich nur ein archaeologe lösen
kann, einer dem die funde auch in allen einzelheiten rede stehn, und weil
die aufgabe gestellt ist, wird sich auch die archaeologische jugend über
die unfruchtbaren stilriechereien und die wirklich antiquirte suche nach
künstlernamen erheben. in um so mislicherer lage ist jeder der die
ereignisse jener zeit zu schildern unternimmt und nicht den Herodot
paraphrasiren will. sie sind verschollen, und was man einzelnes hört,
belehrt wenig, eben weil es nichts als nakte facta bringt. wir wissen
es nicht, wie sich die situation Athens um 520 v. Chr. gebildet hat:
aber von dieser situation kann man sich einigermaſsen ein bild machen.

Als nach der gesetzgebung Solons statt des gehofften friedens der
parteihader nur gehässiger entbrann, war es das gröſste glück, daſs sich
der zum herrn machte, der seine tüchtigkeit durch die erwerbung von

bei einzelnen personen oder in abgelegenen gegenden hat sich die mode des sechsten
jahrhunderts noch mehrere generationen oder auch dauernd erhalten, nicht ohne
daſs misverständnisse in derselben richtung vorkamen. Asien hat sich den neuen
athenischen mustern immer erst in einigem abstande gefügt, und deshalb den vor-
wurf der τϱυφή schon von den Athenern des fünften jahrhunderts erfahren. inner-
lich hat es den umschwung des empfindens nie mitgemacht. so haben sich falsche
werturteile über die archaische zeit gebildet. nun trieb aber der gegensatz zu den
barbaren dazu die einfachheit von haar und barttracht, des kurzen hemdes und des
simplen überwurfes für echthellenisch auszugeben, also für uralt, und dann für do-
risch, ein wort, das den accent ins tüchtige, derbe, altangestammte zuerst in der
musik erhalten hatte (schon vor 500): das hat dann auch falsche geschichtliche ur-
teile erzeugt. die besten zeugen für die volksstimmung sind immer die dichter,
um so besser, je gröſser sie sind. in dem bilde, das das sechste jahrhundert schon
von Dionysos geschaffen hatte, und das die tragoedie, sein spiel, fest hielt, war
jene alte tracht an haar und bart und kleidung festgehalten, und die art, wie der
gott sich offenbarte und seine verehrer sich benehmen hieſs, schien die τϱυφή nur
noch mehr zu bestätigen. diesen conflict mit den modernen, kräftigen, dorischen
anschauungen empfand Aischylos innerlich, und doch war er dionysischer dichter.
so verkörperte er diese gegensätze in seiner Lykurgie; die alte fabel hatte eine neue
bedeutung gewonnen. da zuerst nimmt der götterfeind an der weibischen tracht
des gottes anstoſs, zieht freche folgerungen und muſs es büſsen. Euripides hat
das schon als etwas fertiges überkommen; für ihn hat es keine innerliche bedeu-
tung mehr.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/79>, abgerufen am 23.04.2024.