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Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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I.

Es giebt Gegenden, die wir lieben, weil sie schön sind, und Gegenden, die nur schön sind, weil wir sie lieben. Wenn du, der du diese Geschichte lesen willst, vielleicht in diesem Augenblick mit deinen Gedanken am Golf von Neapel verweilst, so ist es ein sehr undankbares Unternehmen, dich an die Einfahrt von Warnemünde zu versetzen und dir die Sanddünen meiner Heimat zu zeigen. Weite Wiesen, platt wie dieser Tisch; rothe Ziegeldächer, lange Reihen kleiner, gleichförmiger Häuser, über denen die Schiffsmasten wie lange Nadeln in den Himmel wachsen; dunkle Wälder am flachen Horizont, wie große Schlangen, die unbeweglich in der Sonne liegen; eine Kette unfruchtbarer, bleicher Sandhügel am Strande hin, wie ein Gebirge zum Spielen; und hinter dir das grüne, unbegrenzte Meer. Du wirfst einen halben Blick über das alles hin und willst wieder gehen; nur ein unklarer Sinnenreiz hält dich noch zurück. Der feuchte, kräftige Salzgeruch, der dich umweht, das Singen der Flut am Bollwerk, das Flattern der Seemöven über dir fängt an, seine träumerische Wirkung auf dich auszuüben. Ein Fischerboot segelt langsam zwischen den beiden Hafendämmen in den Fluß herein; du siehst ihm gedankenlos nach, bis es zwischen den großen, schwarzen Dreimastern verschwindet. Dort auf dem größten von ihnen hißt man die Segel auf, Ankerketten klirren, das eintönige "Ahoi" der arbeitenden Matrosen schwimmt

I.

Es giebt Gegenden, die wir lieben, weil sie schön sind, und Gegenden, die nur schön sind, weil wir sie lieben. Wenn du, der du diese Geschichte lesen willst, vielleicht in diesem Augenblick mit deinen Gedanken am Golf von Neapel verweilst, so ist es ein sehr undankbares Unternehmen, dich an die Einfahrt von Warnemünde zu versetzen und dir die Sanddünen meiner Heimat zu zeigen. Weite Wiesen, platt wie dieser Tisch; rothe Ziegeldächer, lange Reihen kleiner, gleichförmiger Häuser, über denen die Schiffsmasten wie lange Nadeln in den Himmel wachsen; dunkle Wälder am flachen Horizont, wie große Schlangen, die unbeweglich in der Sonne liegen; eine Kette unfruchtbarer, bleicher Sandhügel am Strande hin, wie ein Gebirge zum Spielen; und hinter dir das grüne, unbegrenzte Meer. Du wirfst einen halben Blick über das alles hin und willst wieder gehen; nur ein unklarer Sinnenreiz hält dich noch zurück. Der feuchte, kräftige Salzgeruch, der dich umweht, das Singen der Flut am Bollwerk, das Flattern der Seemöven über dir fängt an, seine träumerische Wirkung auf dich auszuüben. Ein Fischerboot segelt langsam zwischen den beiden Hafendämmen in den Fluß herein; du siehst ihm gedankenlos nach, bis es zwischen den großen, schwarzen Dreimastern verschwindet. Dort auf dem größten von ihnen hißt man die Segel auf, Ankerketten klirren, das eintönige „Ahoi“ der arbeitenden Matrosen schwimmt

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[0007] I. Es giebt Gegenden, die wir lieben, weil sie schön sind, und Gegenden, die nur schön sind, weil wir sie lieben. Wenn du, der du diese Geschichte lesen willst, vielleicht in diesem Augenblick mit deinen Gedanken am Golf von Neapel verweilst, so ist es ein sehr undankbares Unternehmen, dich an die Einfahrt von Warnemünde zu versetzen und dir die Sanddünen meiner Heimat zu zeigen. Weite Wiesen, platt wie dieser Tisch; rothe Ziegeldächer, lange Reihen kleiner, gleichförmiger Häuser, über denen die Schiffsmasten wie lange Nadeln in den Himmel wachsen; dunkle Wälder am flachen Horizont, wie große Schlangen, die unbeweglich in der Sonne liegen; eine Kette unfruchtbarer, bleicher Sandhügel am Strande hin, wie ein Gebirge zum Spielen; und hinter dir das grüne, unbegrenzte Meer. Du wirfst einen halben Blick über das alles hin und willst wieder gehen; nur ein unklarer Sinnenreiz hält dich noch zurück. Der feuchte, kräftige Salzgeruch, der dich umweht, das Singen der Flut am Bollwerk, das Flattern der Seemöven über dir fängt an, seine träumerische Wirkung auf dich auszuüben. Ein Fischerboot segelt langsam zwischen den beiden Hafendämmen in den Fluß herein; du siehst ihm gedankenlos nach, bis es zwischen den großen, schwarzen Dreimastern verschwindet. Dort auf dem größten von ihnen hißt man die Segel auf, Ankerketten klirren, das eintönige „Ahoi“ der arbeitenden Matrosen schwimmt

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:21:33Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:21:33Z)

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Zitationshilfe: Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilbrandt_ohlerich_1910/7>, abgerufen am 29.03.2024.