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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Sechstes Buch.
sei, und daß demgemäß "rebus mutatis" die Gebundenheit aufhöre. So weit
gefaßt würde der Satz alles Vertragsrecht ganz unsicher machen, da alle öffentlichen
Zustände sich fort und fort mit der Zeit ändern. Aber auch das entgegengesetzte
Extrem ist zu verwerfen, wornach die Vertragspflicht unverändert fortdauert,
wie immer inzwischen die Zustände sich ändern. Nicht jede Aenderung der Zustände
wirkt auf die Fortwirkung des Vertrags ändernd ein, aber gewisse Aenderungen
müssen auch für diese Folgen haben. Dahin ist voraus der Fall zu rechnen,
wenn ein bestimmter öffentlicher Zustand die Voraussetzung und
Grundlage eines Vertrages war, und nun so erhebliche Aenderungen erfährt, daß
er nicht mehr als Grundlage des spätern Rechtsverhältnisses betrachtet werden kann,
dann stürzt mit der Basis des Vertrags auch dessen Wirksamkeit zusammen.
Z. B. Ein Vertrag, welcher die katholische oder protestantische Confession der Bevöl-
kerung voraussetzt, verliert seine Kraft, wenn die Bevölkerung zu einer andern Con-
fession übergeht. Ober ein Vertrag, welcher die republikanische oder monarchische
Verfassung eines Landes als Grundlage seiner Bestimmungen voraussetzt, wird un-
wirksam, wenn das Land diese Verfassungsform mit einer andern entgegengesetzten
vertauscht.

457.

Ebenso verlieren die Vertragsverbindlichkeiten ihre bindende Kraft,
wenn dieselben mit der Entwicklung des anerkannten Menschen- und Völ-
kerrechts in Widerstreit gerathen sind.

Vertragsbestimmungen, welche zur Zeit des Vertragsabschlusses als erlaubt
und rechtmäßig galten, z. B. der Ausbreitung der Sclaverei oder der Behinderung
der freien Schiffahrt, oder über Kaperschiffe können unrechtmäßig werden, wenn im
Verlauf der Zeit humanere und freiere Rechtsgrundsätze zu allgemeiner Anerkennung
in der civilisirten Welt gelangen.

458.

Ferner können Verträge, deren Bestimmungen mit der als noth-
wendig erkannten Fortbildung der Verfassung eines States oder mit der
nothwendigen Wandlung des Privatrechts unverträglich geworden sind, von
diesem State gekündigt werden.

Das Vertragsrecht darf nicht zum bleibenden Hinderniß werden der
Entwicklung der Statsverfassung und Rechtsordnung eines Volkes. Um sein Leben
zu bewahren und seine nothwendige Entwicklung zu sichern, muß der Stat sich von
Beziehungen zu andern Staten lösen können, welche er unter ganz andern Rechts-
grundlagen eingegangen ist. Das bestreiten, würde heißen, das Wesen der Form
opfern und die Vertragstreue bis zum Selbstmord treiben, was der Natur und der

Sechstes Buch.
ſei, und daß demgemäß „rebus mutatis“ die Gebundenheit aufhöre. So weit
gefaßt würde der Satz alles Vertragsrecht ganz unſicher machen, da alle öffentlichen
Zuſtände ſich fort und fort mit der Zeit ändern. Aber auch das entgegengeſetzte
Extrem iſt zu verwerfen, wornach die Vertragspflicht unverändert fortdauert,
wie immer inzwiſchen die Zuſtände ſich ändern. Nicht jede Aenderung der Zuſtände
wirkt auf die Fortwirkung des Vertrags ändernd ein, aber gewiſſe Aenderungen
müſſen auch für dieſe Folgen haben. Dahin iſt voraus der Fall zu rechnen,
wenn ein beſtimmter öffentlicher Zuſtand die Vorausſetzung und
Grundlage eines Vertrages war, und nun ſo erhebliche Aenderungen erfährt, daß
er nicht mehr als Grundlage des ſpätern Rechtsverhältniſſes betrachtet werden kann,
dann ſtürzt mit der Baſis des Vertrags auch deſſen Wirkſamkeit zuſammen.
Z. B. Ein Vertrag, welcher die katholiſche oder proteſtantiſche Confeſſion der Bevöl-
kerung vorausſetzt, verliert ſeine Kraft, wenn die Bevölkerung zu einer andern Con-
feſſion übergeht. Ober ein Vertrag, welcher die republikaniſche oder monarchiſche
Verfaſſung eines Landes als Grundlage ſeiner Beſtimmungen vorausſetzt, wird un-
wirkſam, wenn das Land dieſe Verfaſſungsform mit einer andern entgegengeſetzten
vertauſcht.

457.

Ebenſo verlieren die Vertragsverbindlichkeiten ihre bindende Kraft,
wenn dieſelben mit der Entwicklung des anerkannten Menſchen- und Völ-
kerrechts in Widerſtreit gerathen ſind.

Vertragsbeſtimmungen, welche zur Zeit des Vertragsabſchluſſes als erlaubt
und rechtmäßig galten, z. B. der Ausbreitung der Sclaverei oder der Behinderung
der freien Schiffahrt, oder über Kaperſchiffe können unrechtmäßig werden, wenn im
Verlauf der Zeit humanere und freiere Rechtsgrundſätze zu allgemeiner Anerkennung
in der civiliſirten Welt gelangen.

458.

Ferner können Verträge, deren Beſtimmungen mit der als noth-
wendig erkannten Fortbildung der Verfaſſung eines States oder mit der
nothwendigen Wandlung des Privatrechts unverträglich geworden ſind, von
dieſem State gekündigt werden.

Das Vertragsrecht darf nicht zum bleibenden Hinderniß werden der
Entwicklung der Statsverfaſſung und Rechtsordnung eines Volkes. Um ſein Leben
zu bewahren und ſeine nothwendige Entwicklung zu ſichern, muß der Stat ſich von
Beziehungen zu andern Staten löſen können, welche er unter ganz andern Rechts-
grundlagen eingegangen iſt. Das beſtreiten, würde heißen, das Weſen der Form
opfern und die Vertragstreue bis zum Selbſtmord treiben, was der Natur und der

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[256/0278] Sechstes Buch. ſei, und daß demgemäß „rebus mutatis“ die Gebundenheit aufhöre. So weit gefaßt würde der Satz alles Vertragsrecht ganz unſicher machen, da alle öffentlichen Zuſtände ſich fort und fort mit der Zeit ändern. Aber auch das entgegengeſetzte Extrem iſt zu verwerfen, wornach die Vertragspflicht unverändert fortdauert, wie immer inzwiſchen die Zuſtände ſich ändern. Nicht jede Aenderung der Zuſtände wirkt auf die Fortwirkung des Vertrags ändernd ein, aber gewiſſe Aenderungen müſſen auch für dieſe Folgen haben. Dahin iſt voraus der Fall zu rechnen, wenn ein beſtimmter öffentlicher Zuſtand die Vorausſetzung und Grundlage eines Vertrages war, und nun ſo erhebliche Aenderungen erfährt, daß er nicht mehr als Grundlage des ſpätern Rechtsverhältniſſes betrachtet werden kann, dann ſtürzt mit der Baſis des Vertrags auch deſſen Wirkſamkeit zuſammen. Z. B. Ein Vertrag, welcher die katholiſche oder proteſtantiſche Confeſſion der Bevöl- kerung vorausſetzt, verliert ſeine Kraft, wenn die Bevölkerung zu einer andern Con- feſſion übergeht. Ober ein Vertrag, welcher die republikaniſche oder monarchiſche Verfaſſung eines Landes als Grundlage ſeiner Beſtimmungen vorausſetzt, wird un- wirkſam, wenn das Land dieſe Verfaſſungsform mit einer andern entgegengeſetzten vertauſcht. 457. Ebenſo verlieren die Vertragsverbindlichkeiten ihre bindende Kraft, wenn dieſelben mit der Entwicklung des anerkannten Menſchen- und Völ- kerrechts in Widerſtreit gerathen ſind. Vertragsbeſtimmungen, welche zur Zeit des Vertragsabſchluſſes als erlaubt und rechtmäßig galten, z. B. der Ausbreitung der Sclaverei oder der Behinderung der freien Schiffahrt, oder über Kaperſchiffe können unrechtmäßig werden, wenn im Verlauf der Zeit humanere und freiere Rechtsgrundſätze zu allgemeiner Anerkennung in der civiliſirten Welt gelangen. 458. Ferner können Verträge, deren Beſtimmungen mit der als noth- wendig erkannten Fortbildung der Verfaſſung eines States oder mit der nothwendigen Wandlung des Privatrechts unverträglich geworden ſind, von dieſem State gekündigt werden. Das Vertragsrecht darf nicht zum bleibenden Hinderniß werden der Entwicklung der Statsverfaſſung und Rechtsordnung eines Volkes. Um ſein Leben zu bewahren und ſeine nothwendige Entwicklung zu ſichern, muß der Stat ſich von Beziehungen zu andern Staten löſen können, welche er unter ganz andern Rechts- grundlagen eingegangen iſt. Das beſtreiten, würde heißen, das Weſen der Form opfern und die Vertragstreue bis zum Selbſtmord treiben, was der Natur und der

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/278>, abgerufen am 26.04.2024.