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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Neuntes Buch.

Die bloße Rüstung und selbst die Truppenaufstellung des neutralen
Stats bedeutet noch nicht Theilnahme am Krieg, sondern nur Schutz des Friedens-
zustands gegen Uebergriffe einer der Kriegsparteien. Eine Neutralität, die nicht im
Nothfall mit den Waffen vertheidigt wird, ist ein höchst unsicheres Gut, und wird
leicht von der einmal losgebundenen Kriegsgewalt mißachtet, wenn sie das in ihrem
Interesse findet.


2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen.
749.

Es hängt in der Regel von dem freien Willen eines jeden States
ab, ob er in dem Kriege anderer Staten neutral bleiben oder sich an dem
Kriege betheiligen wolle.

1. Wenn ein Krieg ausbricht, so können die zunächst unbetheiligten Staten
entweder einer der Kriegsparteien, deren Sache sie unterstützen wollen, beistehn und
so ebenfalls in den Krieg eintreten, oder sie können sich solcher Theilnahme enthalten.
Im letztern Falle sind sie neutral. Die Neutralität bedarf nicht eines besondern
Acts, sondern versteht sich als Regel von selber, wenn nicht die Handlungen
eines Stats auf kriegerische Betheiligung hinweisen.

2. Für die Staten mit fortwährender Neutralität gilt die obige
Vermuthung in erhöhter Stärke. Wenn diese Staten sich, ohne zuvor selber
verletzt zu sein
, bei einem Kriege anderer Staten betheiligen wollten, so
wäre das Verzicht nicht wie bei den andern Staten nur auf die gegenwärtige
Neutralität, sondern zugleich auf die Vortheile der ewigen Neutralität.
Die übrigen Staten würden sich nicht mehr durch die früheren allgemeinen Anord-
nungen bestimmen lassen, einen Stat, der wie die andern je nach seinem freien Er-
messen bald Theil am Kriege nimmt, bald sich zurückhält, als einen vorzugsweise
und dauernd neutralen Stat zu betrachten und zu behandeln. Ein solcher Stat
würde dann eine abwechselnde, bald kriegerische bald friedliche Politik treiben, nicht
mehr eine dauernd und specifisch neutrale. Vgl. unten § 752.

750.

Die Bundesgenossenschaft mit einer Kriegspartei verpflichtet nicht
immer zur Theilnahme am Krieg. Die Bundesgenossenschaft kann begrenzt
und die Behauptung der Neutralität mit derselben vereinbar sein.

Neuntes Buch.

Die bloße Rüſtung und ſelbſt die Truppenaufſtellung des neutralen
Stats bedeutet noch nicht Theilnahme am Krieg, ſondern nur Schutz des Friedens-
zuſtands gegen Uebergriffe einer der Kriegsparteien. Eine Neutralität, die nicht im
Nothfall mit den Waffen vertheidigt wird, iſt ein höchſt unſicheres Gut, und wird
leicht von der einmal losgebundenen Kriegsgewalt mißachtet, wenn ſie das in ihrem
Intereſſe findet.


2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen.
749.

Es hängt in der Regel von dem freien Willen eines jeden States
ab, ob er in dem Kriege anderer Staten neutral bleiben oder ſich an dem
Kriege betheiligen wolle.

1. Wenn ein Krieg ausbricht, ſo können die zunächſt unbetheiligten Staten
entweder einer der Kriegsparteien, deren Sache ſie unterſtützen wollen, beiſtehn und
ſo ebenfalls in den Krieg eintreten, oder ſie können ſich ſolcher Theilnahme enthalten.
Im letztern Falle ſind ſie neutral. Die Neutralität bedarf nicht eines beſondern
Acts, ſondern verſteht ſich als Regel von ſelber, wenn nicht die Handlungen
eines Stats auf kriegeriſche Betheiligung hinweiſen.

2. Für die Staten mit fortwährender Neutralität gilt die obige
Vermuthung in erhöhter Stärke. Wenn dieſe Staten ſich, ohne zuvor ſelber
verletzt zu ſein
, bei einem Kriege anderer Staten betheiligen wollten, ſo
wäre das Verzicht nicht wie bei den andern Staten nur auf die gegenwärtige
Neutralität, ſondern zugleich auf die Vortheile der ewigen Neutralität.
Die übrigen Staten würden ſich nicht mehr durch die früheren allgemeinen Anord-
nungen beſtimmen laſſen, einen Stat, der wie die andern je nach ſeinem freien Er-
meſſen bald Theil am Kriege nimmt, bald ſich zurückhält, als einen vorzugsweiſe
und dauernd neutralen Stat zu betrachten und zu behandeln. Ein ſolcher Stat
würde dann eine abwechſelnde, bald kriegeriſche bald friedliche Politik treiben, nicht
mehr eine dauernd und ſpecifiſch neutrale. Vgl. unten § 752.

750.

Die Bundesgenoſſenſchaft mit einer Kriegspartei verpflichtet nicht
immer zur Theilnahme am Krieg. Die Bundesgenoſſenſchaft kann begrenzt
und die Behauptung der Neutralität mit derſelben vereinbar ſein.

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[406/0428] Neuntes Buch. Die bloße Rüſtung und ſelbſt die Truppenaufſtellung des neutralen Stats bedeutet noch nicht Theilnahme am Krieg, ſondern nur Schutz des Friedens- zuſtands gegen Uebergriffe einer der Kriegsparteien. Eine Neutralität, die nicht im Nothfall mit den Waffen vertheidigt wird, iſt ein höchſt unſicheres Gut, und wird leicht von der einmal losgebundenen Kriegsgewalt mißachtet, wenn ſie das in ihrem Intereſſe findet. 2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen. 749. Es hängt in der Regel von dem freien Willen eines jeden States ab, ob er in dem Kriege anderer Staten neutral bleiben oder ſich an dem Kriege betheiligen wolle. 1. Wenn ein Krieg ausbricht, ſo können die zunächſt unbetheiligten Staten entweder einer der Kriegsparteien, deren Sache ſie unterſtützen wollen, beiſtehn und ſo ebenfalls in den Krieg eintreten, oder ſie können ſich ſolcher Theilnahme enthalten. Im letztern Falle ſind ſie neutral. Die Neutralität bedarf nicht eines beſondern Acts, ſondern verſteht ſich als Regel von ſelber, wenn nicht die Handlungen eines Stats auf kriegeriſche Betheiligung hinweiſen. 2. Für die Staten mit fortwährender Neutralität gilt die obige Vermuthung in erhöhter Stärke. Wenn dieſe Staten ſich, ohne zuvor ſelber verletzt zu ſein, bei einem Kriege anderer Staten betheiligen wollten, ſo wäre das Verzicht nicht wie bei den andern Staten nur auf die gegenwärtige Neutralität, ſondern zugleich auf die Vortheile der ewigen Neutralität. Die übrigen Staten würden ſich nicht mehr durch die früheren allgemeinen Anord- nungen beſtimmen laſſen, einen Stat, der wie die andern je nach ſeinem freien Er- meſſen bald Theil am Kriege nimmt, bald ſich zurückhält, als einen vorzugsweiſe und dauernd neutralen Stat zu betrachten und zu behandeln. Ein ſolcher Stat würde dann eine abwechſelnde, bald kriegeriſche bald friedliche Politik treiben, nicht mehr eine dauernd und ſpecifiſch neutrale. Vgl. unten § 752. 750. Die Bundesgenoſſenſchaft mit einer Kriegspartei verpflichtet nicht immer zur Theilnahme am Krieg. Die Bundesgenoſſenſchaft kann begrenzt und die Behauptung der Neutralität mit derſelben vereinbar ſein.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/428>, abgerufen am 26.04.2024.