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Allgemeine Zeitung. Nr. 1. Augsburg, 1. Januar 1840.

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Beilage zur Allgemeinen Zeitung
1 Januar 1840

Es ist in diesen Blättern mehrmals von der Schrift "die europäische Pentarchie," die Rede gewesen, und die öffentliche Meinung hat das Urtheil vollkommen bestätigt, welches darüber ausgesprochen worden.

Desto mehr erscheint es uns als Pflicht, auf eine kleine Schrift eines vielgenannten Verfassers aufmerksam zu machen, welcher, ohne Paragraph für Paragraph die Pentarchie polemisch zu behandeln, von andern, klar ausgesprochenen Grundsätzen ausgehend, ganz entgegengesetzte Ergebnisse aus der Sachlage zieht, auf welche die "Pentarchie" sich zu stützen bemüht.

Wir begrüßen dieses Werkchen als eine erfreuliche Erscheinung, zuerst weil es unter dem Namen des Verfassers dem mysteriösen Gegner Rede steht, dann weil es Zeugniß von der Liberalität der Censur gibt, und endlich besonders wegen der gemäßigten besonnenen Betonung, welche allen politischen Discussionen so wohl ansteht, und ihnen nur zu oft abgeht.

Im ersten Abschnitt, die europäische Pentarchie überschrieben, werden die imponderabeln Kräfte den materiellen entgegengesetzt, und somit die Macht der Volksthümlichkeiten, die des Glaubens und der Kirchen, die politischer Principien, die der materiellen Interessen neben die der bestehenden Dynastien und Staatsregierungen gestellt. Sie bilden nach des Verfassers Ansicht die eigentliche Pentarchie. Er fügt die Macht der Intelligenz nicht als die sechste bei, weil sie nur dem Nationalruhm, der Macht des Glaubens oder gegen diese, oder aber politischen Principien, und durch die Naturkunde materiellen Interessen diene. Daß das Wort: Wissenschaft ist Macht, so zu verstehen sey, beweist am schlagendsten die Geschichte unseres deutschen Vaterlands.

Nun wird kurz ausgeführt, wie kräftig die Volksthümlichkeiten auch nach langer Unterdrückung das fremdartige Aufgedrungene abzuschütteln vermochten, wie die Kirche zuerst über die Völkergränzen hinübergriff, und wie trotz Ueberspannung und Abspannung ihre Wichtigkeit besteht und bestehen wird, wie die Macht der politischen Principien und der materiellen Interessen sich beinahe gleichzeitig ausbildete und die der Kirche in die zweite Linie zurückdrängte, wie der Bund des restaurirten Katholicismus mit dem Absolutismus das republicanische Princip der Reformirten, der Kampf Hollands und Englands wider das geld- und colonienreiche Spanien die Ausbildung der Schifffahrt und des Handels hervorrief, wie das Princip der Freiheit im Sinne der französischen Umwälzung nur durch Zusammenwirken aller genannten dynamischen Agentien theilweise überwunden werden konnte, und wie nun die Macht der materiellen Interessen die am wenigsten verkannte ist, und sogar im St. Simonismus eine Art Religion werden wollte. -- Wenn man bedenkt, wie Vieles seit drei Jahrhunderten von denen, die oben standen, selbst geschehen ist, um das Jus divinum zu schwächen, die angestammte Ehrfurcht vor geschichtlich Begründetem, den Glauben an gegebenes Wort zu vernichten, wie wenig die klarsten Lehren der Geschichte verstanden, die lautesten und gerechtesten Klagen gehört wurden, so muß man bekennen, daß allein eines oder einige dieser Imponderabilien es waren, welche dem Bestehenden das Daseyn fristeten.

"Das Ansehen der gegenwärtig bestehenden Dynastien und Staatsregierungen ist mithin als die fünfte große Macht in Europa nur aus den genannten vier Großmächten abzuleiten. Welcher Staat in unsern Tagen mächtig ist, schöpft seine Macht aus dem Nachdruck, der Lebensfülle, der Erinnerung und Hoffnung, dem Ruhm und Ehrgeiz der Nation, oder aus religiösen Sympathien, aus alter Pietät und Glaubenstreue, aus dem noch immer regen kirchlichen Parteiinteresse, oder aus der Stärke des politischen Princips, aus der festen Entschiedenheit politischer Corporationen und Parteien, oder aus dem Aufschwung der materiellen Interessen, aus dem Wohlstand und der erfolgreichen Rührigkeit der Erwerbenden, oder endlich aus mehreren, aus allen diesen Machtquellen zugleich.

"Es kommt aber sehr darauf an, in wie weit innerhalb eines Staates jene Mächte nicht mit einander selbst in Widerstreit liegen und in wie weit die Regierung freie Hand hat, sich ihrer zu bedienen, -- und ferner, wie stark die Sympathien oder Antipathien außerhalb des Staates sind, in wie weit der Staat natürliche Bundesgenossen oder natürliche Feinde von außen hat. Erst darnach mißt sich die wahre Macht der Staaten ab. Manchem scheinen viele Mittel zu Gebote zu stehen, allein er kann sich ihrer nicht frei bedienen. Mancher kann sich ihrer frei bedienen und ist in der That sehr stark, hat aber desto mehr Antipathien von außen gegen sich.

"Uebrigens haben die bestehenden Staatsregierungen gegenwärtig allein die Initiative. Erhebungen der Nationen als solcher, Erhebungen großer Religionsparteien, Erhebungen großer politischer Parteien zu Gunsten eines Princips ohne Rücksicht auf die bestehenden Staaten sind unwahrscheinlich. Selbst wenn solche National-, Glaubens- und Principienfragen eine europäische Wichtigkeit erlangen sollten, würden sie alsbald in Fragen des Interesses für die bestehenden Staaten verwandelt werden, und ihr Gewicht nur in die große Wagschale des europäischen Gleichgewichts legen, oder ein Staat, glücklicher und klüger als die andern, würde sich alle die Vortheile aneignen, welche die Steigerung und der Sieg einer Partei mit sich bringen würde.

"Ohne also zu verkennen, daß die bestehenden Staaten ihre Macht aus sehr verschiedenen und nicht immer ganz zu berechnenden Quellen schöpfen, sehen wir in ihnen doch die nächsten Inhaber und Nutznießer dieser Quellen, und die äußern Repräsentanten alles dessen, was Macht heißt.

"Von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir sie nun noch näher betrachten, und indem wir versuchen, die Macht überall auf ihren wahren Werth zu reduciren und einzeln Macht gegen Macht abzuwägen, werden wir vielleicht im Stande seyn, einige Punkte hervorzuheben, in Bezug auf welche die Zeitgenossen etwas zu gleichgültig, und andere, in Bezug auf welche die herkömmlichen Besorgnisse minder gegründet zu seyn scheinen.

Der zweite Abschnitt handelt von England, seiner durch Abzweigung eines zweiten lebensvollen Volks bewiesenen Kraftfülle, dem Nachdruck seiner Kriege, dem Einfluß des Calvinismus, und dem politischen Tact, welcher gesellschaftliche Unterordnung nicht nur erträgt, sondern hält. Er mahnt daran, daß der Radicalismus, von welchem die europäische Pentarchie die Schwächung Englands hofft, gerade die Schifffahrtsacte hervorbrachte (unter Cromwell.) Es kann vermöge seiner Verfassung Sympathien jeder Art erregen und nützen. Es steht da als die einflußreichste Weltmacht, kann nie mit Rußland theilen wollen, und kann, sobald es nur will, mit verhältnißmäßig kleinen Opfern an den materiellen Interessen des übrigen Europa's sich den furchtbarsten, unüberwindlichsten Verbündeten werben.

Im dritten, Rußland besprechenden Abschnitt, wird bemerkt, wie die Uebertreibung der Kräfte Mißtrauen und die übel angewandte Kunst, sich Sympathien zu erwerben, Antipathien erzeugen, wie die Nation nur durch physische Massen, nicht durch etwas Geistiges imponire, und wie die Eifersucht der Nationalrussen gegen die Ausländer eine politische Thorheit sey. Denn Talente und Genie der Ausländer haben Rußland mächtig gemacht, urd nur Rußland, nicht Deutschland, darf

*) Eben in Stuttgart bei Sonnewald erschienen.

Beilage zur Allgemeinen Zeitung
1 Januar 1840

Es ist in diesen Blättern mehrmals von der Schrift „die europäische Pentarchie,“ die Rede gewesen, und die öffentliche Meinung hat das Urtheil vollkommen bestätigt, welches darüber ausgesprochen worden.

Desto mehr erscheint es uns als Pflicht, auf eine kleine Schrift eines vielgenannten Verfassers aufmerksam zu machen, welcher, ohne Paragraph für Paragraph die Pentarchie polemisch zu behandeln, von andern, klar ausgesprochenen Grundsätzen ausgehend, ganz entgegengesetzte Ergebnisse aus der Sachlage zieht, auf welche die „Pentarchie“ sich zu stützen bemüht.

Wir begrüßen dieses Werkchen als eine erfreuliche Erscheinung, zuerst weil es unter dem Namen des Verfassers dem mysteriösen Gegner Rede steht, dann weil es Zeugniß von der Liberalität der Censur gibt, und endlich besonders wegen der gemäßigten besonnenen Betonung, welche allen politischen Discussionen so wohl ansteht, und ihnen nur zu oft abgeht.

Im ersten Abschnitt, die europäische Pentarchie überschrieben, werden die imponderabeln Kräfte den materiellen entgegengesetzt, und somit die Macht der Volksthümlichkeiten, die des Glaubens und der Kirchen, die politischer Principien, die der materiellen Interessen neben die der bestehenden Dynastien und Staatsregierungen gestellt. Sie bilden nach des Verfassers Ansicht die eigentliche Pentarchie. Er fügt die Macht der Intelligenz nicht als die sechste bei, weil sie nur dem Nationalruhm, der Macht des Glaubens oder gegen diese, oder aber politischen Principien, und durch die Naturkunde materiellen Interessen diene. Daß das Wort: Wissenschaft ist Macht, so zu verstehen sey, beweist am schlagendsten die Geschichte unseres deutschen Vaterlands.

Nun wird kurz ausgeführt, wie kräftig die Volksthümlichkeiten auch nach langer Unterdrückung das fremdartige Aufgedrungene abzuschütteln vermochten, wie die Kirche zuerst über die Völkergränzen hinübergriff, und wie trotz Ueberspannung und Abspannung ihre Wichtigkeit besteht und bestehen wird, wie die Macht der politischen Principien und der materiellen Interessen sich beinahe gleichzeitig ausbildete und die der Kirche in die zweite Linie zurückdrängte, wie der Bund des restaurirten Katholicismus mit dem Absolutismus das republicanische Princip der Reformirten, der Kampf Hollands und Englands wider das geld- und colonienreiche Spanien die Ausbildung der Schifffahrt und des Handels hervorrief, wie das Princip der Freiheit im Sinne der französischen Umwälzung nur durch Zusammenwirken aller genannten dynamischen Agentien theilweise überwunden werden konnte, und wie nun die Macht der materiellen Interessen die am wenigsten verkannte ist, und sogar im St. Simonismus eine Art Religion werden wollte. — Wenn man bedenkt, wie Vieles seit drei Jahrhunderten von denen, die oben standen, selbst geschehen ist, um das Jus divinum zu schwächen, die angestammte Ehrfurcht vor geschichtlich Begründetem, den Glauben an gegebenes Wort zu vernichten, wie wenig die klarsten Lehren der Geschichte verstanden, die lautesten und gerechtesten Klagen gehört wurden, so muß man bekennen, daß allein eines oder einige dieser Imponderabilien es waren, welche dem Bestehenden das Daseyn fristeten.

„Das Ansehen der gegenwärtig bestehenden Dynastien und Staatsregierungen ist mithin als die fünfte große Macht in Europa nur aus den genannten vier Großmächten abzuleiten. Welcher Staat in unsern Tagen mächtig ist, schöpft seine Macht aus dem Nachdruck, der Lebensfülle, der Erinnerung und Hoffnung, dem Ruhm und Ehrgeiz der Nation, oder aus religiösen Sympathien, aus alter Pietät und Glaubenstreue, aus dem noch immer regen kirchlichen Parteiinteresse, oder aus der Stärke des politischen Princips, aus der festen Entschiedenheit politischer Corporationen und Parteien, oder aus dem Aufschwung der materiellen Interessen, aus dem Wohlstand und der erfolgreichen Rührigkeit der Erwerbenden, oder endlich aus mehreren, aus allen diesen Machtquellen zugleich.

„Es kommt aber sehr darauf an, in wie weit innerhalb eines Staates jene Mächte nicht mit einander selbst in Widerstreit liegen und in wie weit die Regierung freie Hand hat, sich ihrer zu bedienen, — und ferner, wie stark die Sympathien oder Antipathien außerhalb des Staates sind, in wie weit der Staat natürliche Bundesgenossen oder natürliche Feinde von außen hat. Erst darnach mißt sich die wahre Macht der Staaten ab. Manchem scheinen viele Mittel zu Gebote zu stehen, allein er kann sich ihrer nicht frei bedienen. Mancher kann sich ihrer frei bedienen und ist in der That sehr stark, hat aber desto mehr Antipathien von außen gegen sich.

„Uebrigens haben die bestehenden Staatsregierungen gegenwärtig allein die Initiative. Erhebungen der Nationen als solcher, Erhebungen großer Religionsparteien, Erhebungen großer politischer Parteien zu Gunsten eines Princips ohne Rücksicht auf die bestehenden Staaten sind unwahrscheinlich. Selbst wenn solche National-, Glaubens- und Principienfragen eine europäische Wichtigkeit erlangen sollten, würden sie alsbald in Fragen des Interesses für die bestehenden Staaten verwandelt werden, und ihr Gewicht nur in die große Wagschale des europäischen Gleichgewichts legen, oder ein Staat, glücklicher und klüger als die andern, würde sich alle die Vortheile aneignen, welche die Steigerung und der Sieg einer Partei mit sich bringen würde.

„Ohne also zu verkennen, daß die bestehenden Staaten ihre Macht aus sehr verschiedenen und nicht immer ganz zu berechnenden Quellen schöpfen, sehen wir in ihnen doch die nächsten Inhaber und Nutznießer dieser Quellen, und die äußern Repräsentanten alles dessen, was Macht heißt.

„Von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir sie nun noch näher betrachten, und indem wir versuchen, die Macht überall auf ihren wahren Werth zu reduciren und einzeln Macht gegen Macht abzuwägen, werden wir vielleicht im Stande seyn, einige Punkte hervorzuheben, in Bezug auf welche die Zeitgenossen etwas zu gleichgültig, und andere, in Bezug auf welche die herkömmlichen Besorgnisse minder gegründet zu seyn scheinen.

Der zweite Abschnitt handelt von England, seiner durch Abzweigung eines zweiten lebensvollen Volks bewiesenen Kraftfülle, dem Nachdruck seiner Kriege, dem Einfluß des Calvinismus, und dem politischen Tact, welcher gesellschaftliche Unterordnung nicht nur erträgt, sondern hält. Er mahnt daran, daß der Radicalismus, von welchem die europäische Pentarchie die Schwächung Englands hofft, gerade die Schifffahrtsacte hervorbrachte (unter Cromwell.) Es kann vermöge seiner Verfassung Sympathien jeder Art erregen und nützen. Es steht da als die einflußreichste Weltmacht, kann nie mit Rußland theilen wollen, und kann, sobald es nur will, mit verhältnißmäßig kleinen Opfern an den materiellen Interessen des übrigen Europa's sich den furchtbarsten, unüberwindlichsten Verbündeten werben.

Im dritten, Rußland besprechenden Abschnitt, wird bemerkt, wie die Uebertreibung der Kräfte Mißtrauen und die übel angewandte Kunst, sich Sympathien zu erwerben, Antipathien erzeugen, wie die Nation nur durch physische Massen, nicht durch etwas Geistiges imponire, und wie die Eifersucht der Nationalrussen gegen die Ausländer eine politische Thorheit sey. Denn Talente und Genie der Ausländer haben Rußland mächtig gemacht, urd nur Rußland, nicht Deutschland, darf

*) Eben in Stuttgart bei Sonnewald erschienen.
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[0001/0009] Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1 Januar 1840 **Europa im Jahr 1840 *)von Wolfgang Menzel Es ist in diesen Blättern mehrmals von der Schrift „die europäische Pentarchie,“ die Rede gewesen, und die öffentliche Meinung hat das Urtheil vollkommen bestätigt, welches darüber ausgesprochen worden. Desto mehr erscheint es uns als Pflicht, auf eine kleine Schrift eines vielgenannten Verfassers aufmerksam zu machen, welcher, ohne Paragraph für Paragraph die Pentarchie polemisch zu behandeln, von andern, klar ausgesprochenen Grundsätzen ausgehend, ganz entgegengesetzte Ergebnisse aus der Sachlage zieht, auf welche die „Pentarchie“ sich zu stützen bemüht. Wir begrüßen dieses Werkchen als eine erfreuliche Erscheinung, zuerst weil es unter dem Namen des Verfassers dem mysteriösen Gegner Rede steht, dann weil es Zeugniß von der Liberalität der Censur gibt, und endlich besonders wegen der gemäßigten besonnenen Betonung, welche allen politischen Discussionen so wohl ansteht, und ihnen nur zu oft abgeht. Im ersten Abschnitt, die europäische Pentarchie überschrieben, werden die imponderabeln Kräfte den materiellen entgegengesetzt, und somit die Macht der Volksthümlichkeiten, die des Glaubens und der Kirchen, die politischer Principien, die der materiellen Interessen neben die der bestehenden Dynastien und Staatsregierungen gestellt. Sie bilden nach des Verfassers Ansicht die eigentliche Pentarchie. Er fügt die Macht der Intelligenz nicht als die sechste bei, weil sie nur dem Nationalruhm, der Macht des Glaubens oder gegen diese, oder aber politischen Principien, und durch die Naturkunde materiellen Interessen diene. Daß das Wort: Wissenschaft ist Macht, so zu verstehen sey, beweist am schlagendsten die Geschichte unseres deutschen Vaterlands. Nun wird kurz ausgeführt, wie kräftig die Volksthümlichkeiten auch nach langer Unterdrückung das fremdartige Aufgedrungene abzuschütteln vermochten, wie die Kirche zuerst über die Völkergränzen hinübergriff, und wie trotz Ueberspannung und Abspannung ihre Wichtigkeit besteht und bestehen wird, wie die Macht der politischen Principien und der materiellen Interessen sich beinahe gleichzeitig ausbildete und die der Kirche in die zweite Linie zurückdrängte, wie der Bund des restaurirten Katholicismus mit dem Absolutismus das republicanische Princip der Reformirten, der Kampf Hollands und Englands wider das geld- und colonienreiche Spanien die Ausbildung der Schifffahrt und des Handels hervorrief, wie das Princip der Freiheit im Sinne der französischen Umwälzung nur durch Zusammenwirken aller genannten dynamischen Agentien theilweise überwunden werden konnte, und wie nun die Macht der materiellen Interessen die am wenigsten verkannte ist, und sogar im St. Simonismus eine Art Religion werden wollte. — Wenn man bedenkt, wie Vieles seit drei Jahrhunderten von denen, die oben standen, selbst geschehen ist, um das Jus divinum zu schwächen, die angestammte Ehrfurcht vor geschichtlich Begründetem, den Glauben an gegebenes Wort zu vernichten, wie wenig die klarsten Lehren der Geschichte verstanden, die lautesten und gerechtesten Klagen gehört wurden, so muß man bekennen, daß allein eines oder einige dieser Imponderabilien es waren, welche dem Bestehenden das Daseyn fristeten. „Das Ansehen der gegenwärtig bestehenden Dynastien und Staatsregierungen ist mithin als die fünfte große Macht in Europa nur aus den genannten vier Großmächten abzuleiten. Welcher Staat in unsern Tagen mächtig ist, schöpft seine Macht aus dem Nachdruck, der Lebensfülle, der Erinnerung und Hoffnung, dem Ruhm und Ehrgeiz der Nation, oder aus religiösen Sympathien, aus alter Pietät und Glaubenstreue, aus dem noch immer regen kirchlichen Parteiinteresse, oder aus der Stärke des politischen Princips, aus der festen Entschiedenheit politischer Corporationen und Parteien, oder aus dem Aufschwung der materiellen Interessen, aus dem Wohlstand und der erfolgreichen Rührigkeit der Erwerbenden, oder endlich aus mehreren, aus allen diesen Machtquellen zugleich. „Es kommt aber sehr darauf an, in wie weit innerhalb eines Staates jene Mächte nicht mit einander selbst in Widerstreit liegen und in wie weit die Regierung freie Hand hat, sich ihrer zu bedienen, — und ferner, wie stark die Sympathien oder Antipathien außerhalb des Staates sind, in wie weit der Staat natürliche Bundesgenossen oder natürliche Feinde von außen hat. Erst darnach mißt sich die wahre Macht der Staaten ab. Manchem scheinen viele Mittel zu Gebote zu stehen, allein er kann sich ihrer nicht frei bedienen. Mancher kann sich ihrer frei bedienen und ist in der That sehr stark, hat aber desto mehr Antipathien von außen gegen sich. „Uebrigens haben die bestehenden Staatsregierungen gegenwärtig allein die Initiative. Erhebungen der Nationen als solcher, Erhebungen großer Religionsparteien, Erhebungen großer politischer Parteien zu Gunsten eines Princips ohne Rücksicht auf die bestehenden Staaten sind unwahrscheinlich. Selbst wenn solche National-, Glaubens- und Principienfragen eine europäische Wichtigkeit erlangen sollten, würden sie alsbald in Fragen des Interesses für die bestehenden Staaten verwandelt werden, und ihr Gewicht nur in die große Wagschale des europäischen Gleichgewichts legen, oder ein Staat, glücklicher und klüger als die andern, würde sich alle die Vortheile aneignen, welche die Steigerung und der Sieg einer Partei mit sich bringen würde. „Ohne also zu verkennen, daß die bestehenden Staaten ihre Macht aus sehr verschiedenen und nicht immer ganz zu berechnenden Quellen schöpfen, sehen wir in ihnen doch die nächsten Inhaber und Nutznießer dieser Quellen, und die äußern Repräsentanten alles dessen, was Macht heißt. „Von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir sie nun noch näher betrachten, und indem wir versuchen, die Macht überall auf ihren wahren Werth zu reduciren und einzeln Macht gegen Macht abzuwägen, werden wir vielleicht im Stande seyn, einige Punkte hervorzuheben, in Bezug auf welche die Zeitgenossen etwas zu gleichgültig, und andere, in Bezug auf welche die herkömmlichen Besorgnisse minder gegründet zu seyn scheinen. Der zweite Abschnitt handelt von England, seiner durch Abzweigung eines zweiten lebensvollen Volks bewiesenen Kraftfülle, dem Nachdruck seiner Kriege, dem Einfluß des Calvinismus, und dem politischen Tact, welcher gesellschaftliche Unterordnung nicht nur erträgt, sondern hält. Er mahnt daran, daß der Radicalismus, von welchem die europäische Pentarchie die Schwächung Englands hofft, gerade die Schifffahrtsacte hervorbrachte (unter Cromwell.) Es kann vermöge seiner Verfassung Sympathien jeder Art erregen und nützen. Es steht da als die einflußreichste Weltmacht, kann nie mit Rußland theilen wollen, und kann, sobald es nur will, mit verhältnißmäßig kleinen Opfern an den materiellen Interessen des übrigen Europa's sich den furchtbarsten, unüberwindlichsten Verbündeten werben. Im dritten, Rußland besprechenden Abschnitt, wird bemerkt, wie die Uebertreibung der Kräfte Mißtrauen und die übel angewandte Kunst, sich Sympathien zu erwerben, Antipathien erzeugen, wie die Nation nur durch physische Massen, nicht durch etwas Geistiges imponire, und wie die Eifersucht der Nationalrussen gegen die Ausländer eine politische Thorheit sey. Denn Talente und Genie der Ausländer haben Rußland mächtig gemacht, urd nur Rußland, nicht Deutschland, darf *) Eben in Stuttgart bei Sonnewald erschienen.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 1. Augsburg, 1. Januar 1840, S. 0001. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_001_18400101/9>, abgerufen am 26.04.2024.