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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Wetterschießen.

So unerreichbar diese Schauer-Terrasse (von unten gesehen)
scheint, so ziemlich leicht ist sie vom geübten Berggänger über die
stufenförmig sich aufbauenden Wechselschichten der Gesteine zu er¬
reichen. Beim Eingang in das Thal, etwa 8700 Fuß über dem
Meere (oder 4500 F. über der Sohle des Ammerten-Thales) ist der
Firn, welcher die ganze Schlucht füllt, keine tausend Schritte breit.
Kahle, schroff aufsteigende Granitbänke engen ihn wie Schleusen
ein, über die er aus seinem stillen Bett sich hinausdrängt und
seine Massen dann wohl zweitausend Fuß tief über schwindelnde
Abstürze, bald in hängenden Bogen, bald in zerrissenen, aufgetrie¬
benen Gletscherbrüchen auf die Stufsteinalp hinabdrängt. Man hat
die Gletschersturzmassen schon oft mit momentan erstarrten Wasser¬
fällen verglichen; hier reicht diese ohnehin etwas hinkende Paral¬
lele nicht aus. Das Chaos der zerborstenen, übereinandergestürzten
und ineinandergekeilten Eisriffe, das Wirrsal der dazwischen klaf¬
fenden, nach allen Richtungen hinabgähnenden Schlünde und hin¬
einhangenden Fluhbrocken ist so außerordentlich, daß man Stellen
so grausiger Wildniß nicht viel in den Alpen findet. Will man
indeß das Gleichniß beibehalten, so erscheint das Rotthal als ein
von himmelhohen Felsenwänden eingeschlossenes Meer, das im wil¬
desten Emporschäumen plötzlich erstarrt, seine Massen nun über die
Ufer hinausschiebt und bald in wirr-zerscherbten Splittern hoch
aufthürmt, bald dieselben ihr Gleichgewicht verlieren und grause
Lasten losreißen läßt, die im Schmettersturze zerstäubend wie
Ströme zu Thal fließen. -- Da kein Kräutchen, selbst nicht das
dürrste Grashälmchen hier wächst, so verirren sich auch fast nie
Gemsen hierher, und weil solche Thiere hier nicht zu suchen sind,
so kommts, daß auch keine Gemsenjäger sich hierher versteigen.
Nur vom Schafbuben der oberen Stufsteinalp wird jener Schauer¬
ort von Zeit zu Zeit vielleicht einmal aus Langeweile erklommen.

Nach der im Berner Oberlande allgemein kursirenden Sage
sollen im Mittelalter und noch nach den Zeiten der Reformation

Wetterſchießen.

So unerreichbar dieſe Schauer-Terraſſe (von unten geſehen)
ſcheint, ſo ziemlich leicht iſt ſie vom geübten Berggänger über die
ſtufenförmig ſich aufbauenden Wechſelſchichten der Geſteine zu er¬
reichen. Beim Eingang in das Thal, etwa 8700 Fuß über dem
Meere (oder 4500 F. über der Sohle des Ammerten-Thales) iſt der
Firn, welcher die ganze Schlucht füllt, keine tauſend Schritte breit.
Kahle, ſchroff aufſteigende Granitbänke engen ihn wie Schleuſen
ein, über die er aus ſeinem ſtillen Bett ſich hinausdrängt und
ſeine Maſſen dann wohl zweitauſend Fuß tief über ſchwindelnde
Abſtürze, bald in hängenden Bogen, bald in zerriſſenen, aufgetrie¬
benen Gletſcherbrüchen auf die Stufſteinalp hinabdrängt. Man hat
die Gletſcherſturzmaſſen ſchon oft mit momentan erſtarrten Waſſer¬
fällen verglichen; hier reicht dieſe ohnehin etwas hinkende Paral¬
lele nicht aus. Das Chaos der zerborſtenen, übereinandergeſtürzten
und ineinandergekeilten Eisriffe, das Wirrſal der dazwiſchen klaf¬
fenden, nach allen Richtungen hinabgähnenden Schlünde und hin¬
einhangenden Fluhbrocken iſt ſo außerordentlich, daß man Stellen
ſo grauſiger Wildniß nicht viel in den Alpen findet. Will man
indeß das Gleichniß beibehalten, ſo erſcheint das Rotthal als ein
von himmelhohen Felſenwänden eingeſchloſſenes Meer, das im wil¬
deſten Emporſchäumen plötzlich erſtarrt, ſeine Maſſen nun über die
Ufer hinausſchiebt und bald in wirr-zerſcherbten Splittern hoch
aufthürmt, bald dieſelben ihr Gleichgewicht verlieren und grauſe
Laſten losreißen läßt, die im Schmetterſturze zerſtäubend wie
Ströme zu Thal fließen. — Da kein Kräutchen, ſelbſt nicht das
dürrſte Grashälmchen hier wächſt, ſo verirren ſich auch faſt nie
Gemſen hierher, und weil ſolche Thiere hier nicht zu ſuchen ſind,
ſo kommts, daß auch keine Gemſenjäger ſich hierher verſteigen.
Nur vom Schafbuben der oberen Stufſteinalp wird jener Schauer¬
ort von Zeit zu Zeit vielleicht einmal aus Langeweile erklommen.

Nach der im Berner Oberlande allgemein kurſirenden Sage
ſollen im Mittelalter und noch nach den Zeiten der Reformation

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[136/0164] Wetterſchießen. So unerreichbar dieſe Schauer-Terraſſe (von unten geſehen) ſcheint, ſo ziemlich leicht iſt ſie vom geübten Berggänger über die ſtufenförmig ſich aufbauenden Wechſelſchichten der Geſteine zu er¬ reichen. Beim Eingang in das Thal, etwa 8700 Fuß über dem Meere (oder 4500 F. über der Sohle des Ammerten-Thales) iſt der Firn, welcher die ganze Schlucht füllt, keine tauſend Schritte breit. Kahle, ſchroff aufſteigende Granitbänke engen ihn wie Schleuſen ein, über die er aus ſeinem ſtillen Bett ſich hinausdrängt und ſeine Maſſen dann wohl zweitauſend Fuß tief über ſchwindelnde Abſtürze, bald in hängenden Bogen, bald in zerriſſenen, aufgetrie¬ benen Gletſcherbrüchen auf die Stufſteinalp hinabdrängt. Man hat die Gletſcherſturzmaſſen ſchon oft mit momentan erſtarrten Waſſer¬ fällen verglichen; hier reicht dieſe ohnehin etwas hinkende Paral¬ lele nicht aus. Das Chaos der zerborſtenen, übereinandergeſtürzten und ineinandergekeilten Eisriffe, das Wirrſal der dazwiſchen klaf¬ fenden, nach allen Richtungen hinabgähnenden Schlünde und hin¬ einhangenden Fluhbrocken iſt ſo außerordentlich, daß man Stellen ſo grauſiger Wildniß nicht viel in den Alpen findet. Will man indeß das Gleichniß beibehalten, ſo erſcheint das Rotthal als ein von himmelhohen Felſenwänden eingeſchloſſenes Meer, das im wil¬ deſten Emporſchäumen plötzlich erſtarrt, ſeine Maſſen nun über die Ufer hinausſchiebt und bald in wirr-zerſcherbten Splittern hoch aufthürmt, bald dieſelben ihr Gleichgewicht verlieren und grauſe Laſten losreißen läßt, die im Schmetterſturze zerſtäubend wie Ströme zu Thal fließen. — Da kein Kräutchen, ſelbſt nicht das dürrſte Grashälmchen hier wächſt, ſo verirren ſich auch faſt nie Gemſen hierher, und weil ſolche Thiere hier nicht zu ſuchen ſind, ſo kommts, daß auch keine Gemſenjäger ſich hierher verſteigen. Nur vom Schafbuben der oberen Stufſteinalp wird jener Schauer¬ ort von Zeit zu Zeit vielleicht einmal aus Langeweile erklommen. Nach der im Berner Oberlande allgemein kurſirenden Sage ſollen im Mittelalter und noch nach den Zeiten der Reformation

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/164>, abgerufen am 26.04.2024.