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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

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§. 180. Kindesmord.

IV. Eine für die Praxis sehr wichtige Frage ist es, ob die Le-
bensfähigkeit des Kindes zum Thatbestand des Kindesmordes erforderlich
sein soll. Die Staatsraths-Kommission wollte, wenn das Kind noch
nicht lebensfähig war, in ungeeigneter Weise die mildere Strafe des
nicht beendigten Versuchs anwenden; p) allein der Staatsrath erklärte
sich gegen die ganze Unterscheidung, indem er zum Thatbestande des
Verbrechens den Umstand, daß das Kind wirklich gelebt habe, für genü-
gend hielt. Damit stimme auch das Allg. Landrecht überein, und wenn
die Rechtslehrer das Erforderniß der Lebensfähigkeit so häufig aufstellten,
so erkläre sich dieß aus dem Bestreben, die Strafen der Karolina zu
mildern, und insbesondere die Todesstrafe bei dem Kindesmord zu be-
seitigen. Das gedachte Erforderniß sei aber unzulässig, weil es a. gegen
das Rechtsprinzip verstoße, und b. zur Willkühr führe.

ad a.Dem Gesetze müsse jedes Leben heilig sein, ohne Rücksicht
auf die Möglichkeit seiner längeren oder kürzeren Dauer und auf die
Früchte, welche es bringen werde. Wäre der Umstand, daß ein unreif
geborenes Kind sein Leben nur sehr kurze Zeit fortsetzen könne, entschei-
dend, so würde auch die Tödtung eines völlig ausgetragenen Kindes,
welches wegen eines organischen Fehlers nur sehr kurze Zeit nach der
Geburt hätte leben können, nicht als ein Kindesmord zu behandeln sein,
was noch niemand zu behaupten gewagt habe. Daß bei der Frage, ob
eine Tödtung als Mord zu betrachten sei, die Gewißheit einer nur sehr
kurzen Lebensdauer des Getödteten nicht in Betracht kommen könne,
sei bei der, dem Staatsrathe vorgelegten Hauptfrage Nr. 40. ent-
schieden worden.

ad. b. Eine solche Annahme sei aber nicht bloß inkonsequent, son-
dern sie führe auch zur Willkühr. Ueber den Zeitpunkt, mit welchem
die Lebensfähigkeit eines Kindes beginnt, seien die Meinungen der Ge-
lehrten und die Vorschriften der Gesetze nicht übereinstimmend. Als die-
sen Zeitpunkt nehme das Römische Recht den 182sten, das Allg. Land-
recht aber den 210ten Tag nach der Empfängniß an; der Zeitpunkt der
letzteren sei aber meistens selbst für die Mutter ungewiß, und kein Arzt
vermöge in zweifelhaften Fällen zu bestimmen, ob das ihm vorgezeigte
Kind einige Tage vor oder nach jenem Zeitpunkte geboren sei. Die
Regel des Civilrechts über die Lebensfähigkeit beziehe sich auch nur auf
die Frage wegen der Paternität, und diene nur dazu, um für letztere
zur Feststellung der Legitimität eine Vermuthung zu begründen. Sollte
das Erforderniß der Lebensfähigkeit für den Thatbestand des Kindes-
mordes aufgestellt werden, so würde man die Entscheidung darüber ganz

p) Berathungs-Protokolle. II. S. 194. 195.
§. 180. Kindesmord.

IV. Eine für die Praxis ſehr wichtige Frage iſt es, ob die Le-
bensfähigkeit des Kindes zum Thatbeſtand des Kindesmordes erforderlich
ſein ſoll. Die Staatsraths-Kommiſſion wollte, wenn das Kind noch
nicht lebensfähig war, in ungeeigneter Weiſe die mildere Strafe des
nicht beendigten Verſuchs anwenden; p) allein der Staatsrath erklärte
ſich gegen die ganze Unterſcheidung, indem er zum Thatbeſtande des
Verbrechens den Umſtand, daß das Kind wirklich gelebt habe, für genü-
gend hielt. Damit ſtimme auch das Allg. Landrecht überein, und wenn
die Rechtslehrer das Erforderniß der Lebensfähigkeit ſo häufig aufſtellten,
ſo erkläre ſich dieß aus dem Beſtreben, die Strafen der Karolina zu
mildern, und insbeſondere die Todesſtrafe bei dem Kindesmord zu be-
ſeitigen. Das gedachte Erforderniß ſei aber unzuläſſig, weil es a. gegen
das Rechtsprinzip verſtoße, und b. zur Willkühr führe.

ad a.Dem Geſetze müſſe jedes Leben heilig ſein, ohne Rückſicht
auf die Möglichkeit ſeiner längeren oder kürzeren Dauer und auf die
Früchte, welche es bringen werde. Wäre der Umſtand, daß ein unreif
geborenes Kind ſein Leben nur ſehr kurze Zeit fortſetzen könne, entſchei-
dend, ſo würde auch die Tödtung eines völlig ausgetragenen Kindes,
welches wegen eines organiſchen Fehlers nur ſehr kurze Zeit nach der
Geburt hätte leben können, nicht als ein Kindesmord zu behandeln ſein,
was noch niemand zu behaupten gewagt habe. Daß bei der Frage, ob
eine Tödtung als Mord zu betrachten ſei, die Gewißheit einer nur ſehr
kurzen Lebensdauer des Getödteten nicht in Betracht kommen könne,
ſei bei der, dem Staatsrathe vorgelegten Hauptfrage Nr. 40. ent-
ſchieden worden.

ad. b. Eine ſolche Annahme ſei aber nicht bloß inkonſequent, ſon-
dern ſie führe auch zur Willkühr. Ueber den Zeitpunkt, mit welchem
die Lebensfähigkeit eines Kindes beginnt, ſeien die Meinungen der Ge-
lehrten und die Vorſchriften der Geſetze nicht übereinſtimmend. Als die-
ſen Zeitpunkt nehme das Römiſche Recht den 182ſten, das Allg. Land-
recht aber den 210ten Tag nach der Empfängniß an; der Zeitpunkt der
letzteren ſei aber meiſtens ſelbſt für die Mutter ungewiß, und kein Arzt
vermöge in zweifelhaften Fällen zu beſtimmen, ob das ihm vorgezeigte
Kind einige Tage vor oder nach jenem Zeitpunkte geboren ſei. Die
Regel des Civilrechts über die Lebensfähigkeit beziehe ſich auch nur auf
die Frage wegen der Paternität, und diene nur dazu, um für letztere
zur Feſtſtellung der Legitimität eine Vermuthung zu begründen. Sollte
das Erforderniß der Lebensfähigkeit für den Thatbeſtand des Kindes-
mordes aufgeſtellt werden, ſo würde man die Entſcheidung darüber ganz

p) Berathungs-Protokolle. II. S. 194. 195.
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[357/0367] §. 180. Kindesmord. IV. Eine für die Praxis ſehr wichtige Frage iſt es, ob die Le- bensfähigkeit des Kindes zum Thatbeſtand des Kindesmordes erforderlich ſein ſoll. Die Staatsraths-Kommiſſion wollte, wenn das Kind noch nicht lebensfähig war, in ungeeigneter Weiſe die mildere Strafe des nicht beendigten Verſuchs anwenden; p) allein der Staatsrath erklärte ſich gegen die ganze Unterſcheidung, indem er zum Thatbeſtande des Verbrechens den Umſtand, daß das Kind wirklich gelebt habe, für genü- gend hielt. Damit ſtimme auch das Allg. Landrecht überein, und wenn die Rechtslehrer das Erforderniß der Lebensfähigkeit ſo häufig aufſtellten, ſo erkläre ſich dieß aus dem Beſtreben, die Strafen der Karolina zu mildern, und insbeſondere die Todesſtrafe bei dem Kindesmord zu be- ſeitigen. Das gedachte Erforderniß ſei aber unzuläſſig, weil es a. gegen das Rechtsprinzip verſtoße, und b. zur Willkühr führe. ad a.Dem Geſetze müſſe jedes Leben heilig ſein, ohne Rückſicht auf die Möglichkeit ſeiner längeren oder kürzeren Dauer und auf die Früchte, welche es bringen werde. Wäre der Umſtand, daß ein unreif geborenes Kind ſein Leben nur ſehr kurze Zeit fortſetzen könne, entſchei- dend, ſo würde auch die Tödtung eines völlig ausgetragenen Kindes, welches wegen eines organiſchen Fehlers nur ſehr kurze Zeit nach der Geburt hätte leben können, nicht als ein Kindesmord zu behandeln ſein, was noch niemand zu behaupten gewagt habe. Daß bei der Frage, ob eine Tödtung als Mord zu betrachten ſei, die Gewißheit einer nur ſehr kurzen Lebensdauer des Getödteten nicht in Betracht kommen könne, ſei bei der, dem Staatsrathe vorgelegten Hauptfrage Nr. 40. ent- ſchieden worden. ad. b. Eine ſolche Annahme ſei aber nicht bloß inkonſequent, ſon- dern ſie führe auch zur Willkühr. Ueber den Zeitpunkt, mit welchem die Lebensfähigkeit eines Kindes beginnt, ſeien die Meinungen der Ge- lehrten und die Vorſchriften der Geſetze nicht übereinſtimmend. Als die- ſen Zeitpunkt nehme das Römiſche Recht den 182ſten, das Allg. Land- recht aber den 210ten Tag nach der Empfängniß an; der Zeitpunkt der letzteren ſei aber meiſtens ſelbſt für die Mutter ungewiß, und kein Arzt vermöge in zweifelhaften Fällen zu beſtimmen, ob das ihm vorgezeigte Kind einige Tage vor oder nach jenem Zeitpunkte geboren ſei. Die Regel des Civilrechts über die Lebensfähigkeit beziehe ſich auch nur auf die Frage wegen der Paternität, und diene nur dazu, um für letztere zur Feſtſtellung der Legitimität eine Vermuthung zu begründen. Sollte das Erforderniß der Lebensfähigkeit für den Thatbeſtand des Kindes- mordes aufgeſtellt werden, ſo würde man die Entſcheidung darüber ganz p) Berathungs-Protokolle. II. S. 194. 195.

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/367>, abgerufen am 27.04.2024.