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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Erst in zweiter Linie kommt auch die Beziehung zu einem
Ort als der Heimat in Betracht. Entscheidend ist die Ver-
bindung des Individuums mit dem Volk, von secundären Ein-
flusz der Zusammenhang mit dem Land.

Die Meinung der alten Völker, dasz den Fremden kein
Recht zu halten sei, die Fremden also relativ rechtlose 1 Wesen
seien, so lange sie nicht in einen besondern Schutz aufge-
nommen und von demselben gedeckt werden, obwohl von
Hellenen und Römern behauptet, darf wohl als ein Stück
Barbarei betrachtet werden, welches die antike Kultur ent-
stellt. Humaner war der Grundsatz der Germanen: "Jeder
nach seinem angeborenen Volksrecht." Die neuere Rechts-
bildung erkennt auch in dem Fremden den berechtigten Men-
schen und gewährt demselben ihren Schutz.

1. Die Frage aber, wer als Einheimischer anzusehen sei
und wie die Volksgenossenschaft erworben werde, hat
verschiedene Antworten erfahren. Die Rücksichten auf die
Abstammung und auf die Heimat lassen verschiedene Com-
binationen zu. Wir können folgende Systeme unterscheiden:

a) Das System des Geburtsorts. Es entspricht vor-
züglich der Anschauung des spätern Mittelalters. Seine Regel
ist: Die Geburt im Lande begründet die Eigenschaft des
Indigenats. Es ist das heute noch die Regel des englischen
Rechts, welches zwischen natural-born subjects und aliens
unterscheidet. Als in England geboren wird aber auch an-
gesehen, wer auf einem englischen Schiffe oder in einer eng-
lischen Gesandtschaftswohnung im Auslande geboren ward. In
neuerer Zeit ist aber auch in England die Strenge dieses ört-
lichen Princips dadurch ermäszigt worden, dasz die Kinder

1 Diese Ansicht, wie wir sie bei den Römern finden, ist zwar nicht
Gleichstellung der Fremden mit den Sclaven, aber Schutzlosigkeit des
Fremdenrechtes im römischen Stat. Vgl. Ihering, Geist des römischen
Rechts I. S. 219 ff. hostis bedeutet ursprünglich den Gast, den Fremden
und den Feind.

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Erst in zweiter Linie kommt auch die Beziehung zu einem
Ort als der Heimat in Betracht. Entscheidend ist die Ver-
bindung des Individuums mit dem Volk, von secundären Ein-
flusz der Zusammenhang mit dem Land.

Die Meinung der alten Völker, dasz den Fremden kein
Recht zu halten sei, die Fremden also relativ rechtlose 1 Wesen
seien, so lange sie nicht in einen besondern Schutz aufge-
nommen und von demselben gedeckt werden, obwohl von
Hellenen und Römern behauptet, darf wohl als ein Stück
Barbarei betrachtet werden, welches die antike Kultur ent-
stellt. Humaner war der Grundsatz der Germanen: „Jeder
nach seinem angeborenen Volksrecht.“ Die neuere Rechts-
bildung erkennt auch in dem Fremden den berechtigten Men-
schen und gewährt demselben ihren Schutz.

1. Die Frage aber, wer als Einheimischer anzusehen sei
und wie die Volksgenossenschaft erworben werde, hat
verschiedene Antworten erfahren. Die Rücksichten auf die
Abstammung und auf die Heimat lassen verschiedene Com-
binationen zu. Wir können folgende Systeme unterscheiden:

a) Das System des Geburtsorts. Es entspricht vor-
züglich der Anschauung des spätern Mittelalters. Seine Regel
ist: Die Geburt im Lande begründet die Eigenschaft des
Indigenats. Es ist das heute noch die Regel des englischen
Rechts, welches zwischen natural-born subjects und aliens
unterscheidet. Als in England geboren wird aber auch an-
gesehen, wer auf einem englischen Schiffe oder in einer eng-
lischen Gesandtschaftswohnung im Auslande geboren ward. In
neuerer Zeit ist aber auch in England die Strenge dieses ört-
lichen Princips dadurch ermäszigt worden, dasz die Kinder

1 Diese Ansicht, wie wir sie bei den Römern finden, ist zwar nicht
Gleichstellung der Fremden mit den Sclaven, aber Schutzlosigkeit des
Fremdenrechtes im römischen Stat. Vgl. Ihering, Geist des römischen
Rechts I. S. 219 ff. hostis bedeutet ursprünglich den Gast, den Fremden
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[236/0254] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. Erst in zweiter Linie kommt auch die Beziehung zu einem Ort als der Heimat in Betracht. Entscheidend ist die Ver- bindung des Individuums mit dem Volk, von secundären Ein- flusz der Zusammenhang mit dem Land. Die Meinung der alten Völker, dasz den Fremden kein Recht zu halten sei, die Fremden also relativ rechtlose 1 Wesen seien, so lange sie nicht in einen besondern Schutz aufge- nommen und von demselben gedeckt werden, obwohl von Hellenen und Römern behauptet, darf wohl als ein Stück Barbarei betrachtet werden, welches die antike Kultur ent- stellt. Humaner war der Grundsatz der Germanen: „Jeder nach seinem angeborenen Volksrecht.“ Die neuere Rechts- bildung erkennt auch in dem Fremden den berechtigten Men- schen und gewährt demselben ihren Schutz. 1. Die Frage aber, wer als Einheimischer anzusehen sei und wie die Volksgenossenschaft erworben werde, hat verschiedene Antworten erfahren. Die Rücksichten auf die Abstammung und auf die Heimat lassen verschiedene Com- binationen zu. Wir können folgende Systeme unterscheiden: a) Das System des Geburtsorts. Es entspricht vor- züglich der Anschauung des spätern Mittelalters. Seine Regel ist: Die Geburt im Lande begründet die Eigenschaft des Indigenats. Es ist das heute noch die Regel des englischen Rechts, welches zwischen natural-born subjects und aliens unterscheidet. Als in England geboren wird aber auch an- gesehen, wer auf einem englischen Schiffe oder in einer eng- lischen Gesandtschaftswohnung im Auslande geboren ward. In neuerer Zeit ist aber auch in England die Strenge dieses ört- lichen Princips dadurch ermäszigt worden, dasz die Kinder 1 Diese Ansicht, wie wir sie bei den Römern finden, ist zwar nicht Gleichstellung der Fremden mit den Sclaven, aber Schutzlosigkeit des Fremdenrechtes im römischen Stat. Vgl. Ihering, Geist des römischen Rechts I. S. 219 ff. hostis bedeutet ursprünglich den Gast, den Fremden und den Feind.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/254>, abgerufen am 26.04.2024.