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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
8.

So weit das Recht der Menschheit reicht, so weit reicht das Völker-
recht. Wo die Eigenthümlichkeit der Staten beginnt, da tritt das besondere
Gesetz dem allgemeinen vor.

Das Völkerrecht hebt die Selbständigkeit und Freiheit der Staten
nicht auf, sondern setzt dieselbe voraus und achtet sie.

Die Ausbildung des Statsrechts ist der des Völkerrechts vorausgegangen;
die Völker sorgten zunächst für sich, und waren anfangs geneigt, die andern Völker
als ihre natürlichen Feinde anzusehen. Spät erst erweiterte sich ihr Blick auf
das Allgemeine, was sie zusammenhält, und sie lernten in den andern Völkern ihre
Brüder erkennen.

9.

Das Völkerrecht nöthigt nur insoweit einen Stat, sein bisheriges
Sonderrecht außer Wirksamkeit zu setzen oder abzuändern, als dasselbe mit
den nothwendigen Gesetzen des Völkerrechts unverträglich erscheint.

Die Unterdrückung des Sclavenhandels und der Sclavenmärkte in vielen
amerikanischen und asiatischen Ländern, das Verbot des Seeraubs gegenüber den
Barbareskenstaten von Nordafrika, die Nöthigung der ostasiatischen Reiche, dem Welt-
handel Thore und Wege zu öffnen, mögen als Beispiele dienen.

10.

Da die Menschheit, obwohl ihrer natürlichen Gemeinschaft und Ein-
heit bewußt geworden, doch nicht als Eine Gesammtperson und noch nicht
einmal als eine Rechtsgenossenschaft organisirt ist, so wird auch das gegen-
wärtige Völkerrecht nicht in der Form eines einheitlichen Weltgesetzes noch
in der von statutarischen Mehrheitsbeschlüssen geordnet und verkündet.

Man kann sich die Menschheit als eine einheitliche Gesammtperson, d. h. als
Weltstat denken, sei es nun in Form einer Weltmonarchie oder eines die Welt
umfassenden Bundesstats. (Vgl. Bluntschli Allgem. Statsrecht Buch 1. Cap. 2.)
Aber dieser Gedanke hat noch keine geschichtliche Verwirklichung erlebt; es fehlt somit
an einem Organ für die Weltgesetzgebung. Unserer Zeit liegt der Gedanke
einer genossenschaftlichen Verbindung der Staten, zunächst der europäischen, näher,
aber selbst ein solcher allgemeiner Statenbund existirt noch nicht und daher gibt
es auch keine rechtliche Möglichkeit, durch Mehrheitsbeschlüsse für die ganze
Verbindung Vorschriften zu geben.

11.

Die heutige Welt muß sich daher mit der weniger vollkommenen

Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
8.

So weit das Recht der Menſchheit reicht, ſo weit reicht das Völker-
recht. Wo die Eigenthümlichkeit der Staten beginnt, da tritt das beſondere
Geſetz dem allgemeinen vor.

Das Völkerrecht hebt die Selbſtändigkeit und Freiheit der Staten
nicht auf, ſondern ſetzt dieſelbe voraus und achtet ſie.

Die Ausbildung des Statsrechts iſt der des Völkerrechts vorausgegangen;
die Völker ſorgten zunächſt für ſich, und waren anfangs geneigt, die andern Völker
als ihre natürlichen Feinde anzuſehen. Spät erſt erweiterte ſich ihr Blick auf
das Allgemeine, was ſie zuſammenhält, und ſie lernten in den andern Völkern ihre
Brüder erkennen.

9.

Das Völkerrecht nöthigt nur inſoweit einen Stat, ſein bisheriges
Sonderrecht außer Wirkſamkeit zu ſetzen oder abzuändern, als daſſelbe mit
den nothwendigen Geſetzen des Völkerrechts unverträglich erſcheint.

Die Unterdrückung des Sclavenhandels und der Sclavenmärkte in vielen
amerikaniſchen und aſiatiſchen Ländern, das Verbot des Seeraubs gegenüber den
Barbareskenſtaten von Nordafrika, die Nöthigung der oſtaſiatiſchen Reiche, dem Welt-
handel Thore und Wege zu öffnen, mögen als Beiſpiele dienen.

10.

Da die Menſchheit, obwohl ihrer natürlichen Gemeinſchaft und Ein-
heit bewußt geworden, doch nicht als Eine Geſammtperſon und noch nicht
einmal als eine Rechtsgenoſſenſchaft organiſirt iſt, ſo wird auch das gegen-
wärtige Völkerrecht nicht in der Form eines einheitlichen Weltgeſetzes noch
in der von ſtatutariſchen Mehrheitsbeſchlüſſen geordnet und verkündet.

Man kann ſich die Menſchheit als eine einheitliche Geſammtperſon, d. h. als
Weltſtat denken, ſei es nun in Form einer Weltmonarchie oder eines die Welt
umfaſſenden Bundesſtats. (Vgl. Bluntſchli Allgem. Statsrecht Buch 1. Cap. 2.)
Aber dieſer Gedanke hat noch keine geſchichtliche Verwirklichung erlebt; es fehlt ſomit
an einem Organ für die Weltgeſetzgebung. Unſerer Zeit liegt der Gedanke
einer genoſſenſchaftlichen Verbindung der Staten, zunächſt der europäiſchen, näher,
aber ſelbſt ein ſolcher allgemeiner Statenbund exiſtirt noch nicht und daher gibt
es auch keine rechtliche Möglichkeit, durch Mehrheitsbeſchlüſſe für die ganze
Verbindung Vorſchriften zu geben.

11.

Die heutige Welt muß ſich daher mit der weniger vollkommenen

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[57/0079] Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts. 8. So weit das Recht der Menſchheit reicht, ſo weit reicht das Völker- recht. Wo die Eigenthümlichkeit der Staten beginnt, da tritt das beſondere Geſetz dem allgemeinen vor. Das Völkerrecht hebt die Selbſtändigkeit und Freiheit der Staten nicht auf, ſondern ſetzt dieſelbe voraus und achtet ſie. Die Ausbildung des Statsrechts iſt der des Völkerrechts vorausgegangen; die Völker ſorgten zunächſt für ſich, und waren anfangs geneigt, die andern Völker als ihre natürlichen Feinde anzuſehen. Spät erſt erweiterte ſich ihr Blick auf das Allgemeine, was ſie zuſammenhält, und ſie lernten in den andern Völkern ihre Brüder erkennen. 9. Das Völkerrecht nöthigt nur inſoweit einen Stat, ſein bisheriges Sonderrecht außer Wirkſamkeit zu ſetzen oder abzuändern, als daſſelbe mit den nothwendigen Geſetzen des Völkerrechts unverträglich erſcheint. Die Unterdrückung des Sclavenhandels und der Sclavenmärkte in vielen amerikaniſchen und aſiatiſchen Ländern, das Verbot des Seeraubs gegenüber den Barbareskenſtaten von Nordafrika, die Nöthigung der oſtaſiatiſchen Reiche, dem Welt- handel Thore und Wege zu öffnen, mögen als Beiſpiele dienen. 10. Da die Menſchheit, obwohl ihrer natürlichen Gemeinſchaft und Ein- heit bewußt geworden, doch nicht als Eine Geſammtperſon und noch nicht einmal als eine Rechtsgenoſſenſchaft organiſirt iſt, ſo wird auch das gegen- wärtige Völkerrecht nicht in der Form eines einheitlichen Weltgeſetzes noch in der von ſtatutariſchen Mehrheitsbeſchlüſſen geordnet und verkündet. Man kann ſich die Menſchheit als eine einheitliche Geſammtperſon, d. h. als Weltſtat denken, ſei es nun in Form einer Weltmonarchie oder eines die Welt umfaſſenden Bundesſtats. (Vgl. Bluntſchli Allgem. Statsrecht Buch 1. Cap. 2.) Aber dieſer Gedanke hat noch keine geſchichtliche Verwirklichung erlebt; es fehlt ſomit an einem Organ für die Weltgeſetzgebung. Unſerer Zeit liegt der Gedanke einer genoſſenſchaftlichen Verbindung der Staten, zunächſt der europäiſchen, näher, aber ſelbſt ein ſolcher allgemeiner Statenbund exiſtirt noch nicht und daher gibt es auch keine rechtliche Möglichkeit, durch Mehrheitsbeſchlüſſe für die ganze Verbindung Vorſchriften zu geben. 11. Die heutige Welt muß ſich daher mit der weniger vollkommenen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/79>, abgerufen am 27.04.2024.