Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 2. Hamburg, 1727.

Bild:
<< vorherige Seite
Noch eine Bluhme, die redet.
Mein Bruder, lieber Mensch, (verwundere dich nicht,
Daß meine Wenigkeit zu dir: mein Bruder! spricht.
Jch habe Recht dazu, du wirst es selbst gestehen,
Wenn du mich angehör't, und mich recht angesehen.)
Mein Bruder, sprech' ich denn noch einmal, sage mir,
Wie kommst du dir so groß, ich so verächtlich, für?
Sind wir durch eines Schöpfers Macht
Nicht alle beyd' hervor gebracht?
Jst deine Mutter nicht die Erde, so wie meine?
Werd' ich von ihr nicht auch so wol, als du, genährt?
Wie dein, ist auch mein, Leib mit Adern ganz durch-röhrt,
Und diese sind mit Saft so wol gefüllt, als deine.
Jch habe zwar nur eins, du aber hast zwey Beine;
Doch überhebe dich des Vorzugs halber nicht,
Weil sonst ein Ochs zu dir
Mit ja so grossem Rechte spricht:
Wie karg ist gegen dich die gütige Natur,
Armselige zwey-beinigte Figur!
Hab' ich nicht ihrer vier?
Sprich ferner nicht: ich kann mich rühren, laufen, gehen;
Du arme Bluhme must beständig stille stehen.
Sprich, sag' ich, nicht also: sonst werd' ich Vögel kriegen,
Die sagen: ist der Mensch nicht plump? er kann nicht fliegen.
Ey, pochst du, ganz von Eifer rot,
Wie elend, wie veränderlich und flüchtig,
Seyd ihr, wie so vergänglich und wie nichtig!
Bist du nicht auch, wie wir, vielleicht schon morgen todt,
Und must du nicht so wol zu Erden,
Als ich mit meinen Blättern, werden?
Mehr Fälle richten dich als uns zu Grunde.

Wir
Noch eine Bluhme, die redet.
Mein Bruder, lieber Menſch, (verwundere dich nicht,
Daß meine Wenigkeit zu dir: mein Bruder! ſpricht.
Jch habe Recht dazu, du wirſt es ſelbſt geſtehen,
Wenn du mich angehoͤr’t, und mich recht angeſehen.)
Mein Bruder, ſprech’ ich denn noch einmal, ſage mir,
Wie kommſt du dir ſo groß, ich ſo veraͤchtlich, fuͤr?
Sind wir durch eines Schoͤpfers Macht
Nicht alle beyd’ hervor gebracht?
Jſt deine Mutter nicht die Erde, ſo wie meine?
Werd’ ich von ihr nicht auch ſo wol, als du, genaͤhrt?
Wie dein, iſt auch mein, Leib mit Adern ganz durch-roͤhrt,
Und dieſe ſind mit Saft ſo wol gefuͤllt, als deine.
Jch habe zwar nur eins, du aber haſt zwey Beine;
Doch uͤberhebe dich des Vorzugs halber nicht,
Weil ſonſt ein Ochs zu dir
Mit ja ſo groſſem Rechte ſpricht:
Wie karg iſt gegen dich die guͤtige Natur,
Armſelige zwey-beinigte Figur!
Hab’ ich nicht ihrer vier?
Sprich ferner nicht: ich kann mich ruͤhren, laufen, gehen;
Du arme Bluhme muſt beſtaͤndig ſtille ſtehen.
Sprich, ſag’ ich, nicht alſo: ſonſt werd’ ich Voͤgel kriegen,
Die ſagen: iſt der Menſch nicht plump? er kann nicht fliegen.
Ey, pochſt du, ganz von Eifer rot,
Wie elend, wie veraͤnderlich und fluͤchtig,
Seyd ihr, wie ſo vergaͤnglich und wie nichtig!
Biſt du nicht auch, wie wir, vielleicht ſchon morgen todt,
Und muſt du nicht ſo wol zu Erden,
Als ich mit meinen Blaͤttern, werden?
Mehr Faͤlle richten dich als uns zu Grunde.

Wir
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0094" n="58"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Noch eine Bluhme, die redet.</hi> </head><lb/>
          <lg n="23">
            <l><hi rendition="#in">M</hi>ein Bruder, lieber Men&#x017F;ch, (verwundere dich nicht,</l><lb/>
            <l>Daß meine Wenigkeit zu dir: mein Bruder! &#x017F;pricht.</l><lb/>
            <l>Jch habe Recht dazu, du wir&#x017F;t es &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;tehen,</l><lb/>
            <l>Wenn du mich angeho&#x0364;r&#x2019;t, und mich recht ange&#x017F;ehen.)</l><lb/>
            <l>Mein Bruder, &#x017F;prech&#x2019; ich denn noch einmal, &#x017F;age mir,</l><lb/>
            <l>Wie komm&#x017F;t du dir &#x017F;o groß, ich &#x017F;o vera&#x0364;chtlich, fu&#x0364;r?</l><lb/>
            <l>Sind wir durch eines Scho&#x0364;pfers Macht</l><lb/>
            <l>Nicht alle beyd&#x2019; hervor gebracht?</l><lb/>
            <l>J&#x017F;t deine Mutter nicht die Erde, &#x017F;o wie meine?</l><lb/>
            <l>Werd&#x2019; ich von ihr nicht auch &#x017F;o wol, als du, gena&#x0364;hrt?</l><lb/>
            <l>Wie dein, i&#x017F;t auch mein, Leib mit Adern ganz durch-ro&#x0364;hrt,</l><lb/>
            <l>Und die&#x017F;e &#x017F;ind mit Saft &#x017F;o wol gefu&#x0364;llt, als deine.</l><lb/>
            <l>Jch habe zwar nur eins, du aber ha&#x017F;t zwey Beine;</l><lb/>
            <l>Doch u&#x0364;berhebe dich des Vorzugs halber nicht,</l><lb/>
            <l>Weil &#x017F;on&#x017F;t ein Ochs zu dir</l><lb/>
            <l>Mit ja &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;em Rechte &#x017F;pricht:</l><lb/>
            <l>Wie karg i&#x017F;t gegen dich die gu&#x0364;tige Natur,</l><lb/>
            <l>Arm&#x017F;elige zwey-beinigte Figur!</l><lb/>
            <l>Hab&#x2019; ich nicht ihrer vier?</l><lb/>
            <l>Sprich ferner nicht: ich kann mich ru&#x0364;hren, laufen, gehen;</l><lb/>
            <l>Du arme Bluhme mu&#x017F;t be&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;tille &#x017F;tehen.</l><lb/>
            <l>Sprich, &#x017F;ag&#x2019; ich, nicht al&#x017F;o: &#x017F;on&#x017F;t werd&#x2019; ich Vo&#x0364;gel kriegen,</l><lb/>
            <l>Die &#x017F;agen: i&#x017F;t der Men&#x017F;ch nicht plump? er kann nicht fliegen.</l><lb/>
            <l>Ey, poch&#x017F;t du, ganz von Eifer rot,</l><lb/>
            <l>Wie elend, wie vera&#x0364;nderlich und flu&#x0364;chtig,</l><lb/>
            <l>Seyd ihr, wie &#x017F;o verga&#x0364;nglich und wie nichtig!</l><lb/>
            <l>Bi&#x017F;t du nicht auch, wie wir, vielleicht &#x017F;chon morgen todt,</l><lb/>
            <l>Und mu&#x017F;t du nicht &#x017F;o wol zu Erden,</l><lb/>
            <l>Als ich mit meinen Bla&#x0364;ttern, werden?</l><lb/>
            <l>Mehr Fa&#x0364;lle richten dich als uns zu Grunde.</l><lb/>
            <l>
              <fw place="bottom" type="catch">Wir</fw><lb/>
            </l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0094] Noch eine Bluhme, die redet. Mein Bruder, lieber Menſch, (verwundere dich nicht, Daß meine Wenigkeit zu dir: mein Bruder! ſpricht. Jch habe Recht dazu, du wirſt es ſelbſt geſtehen, Wenn du mich angehoͤr’t, und mich recht angeſehen.) Mein Bruder, ſprech’ ich denn noch einmal, ſage mir, Wie kommſt du dir ſo groß, ich ſo veraͤchtlich, fuͤr? Sind wir durch eines Schoͤpfers Macht Nicht alle beyd’ hervor gebracht? Jſt deine Mutter nicht die Erde, ſo wie meine? Werd’ ich von ihr nicht auch ſo wol, als du, genaͤhrt? Wie dein, iſt auch mein, Leib mit Adern ganz durch-roͤhrt, Und dieſe ſind mit Saft ſo wol gefuͤllt, als deine. Jch habe zwar nur eins, du aber haſt zwey Beine; Doch uͤberhebe dich des Vorzugs halber nicht, Weil ſonſt ein Ochs zu dir Mit ja ſo groſſem Rechte ſpricht: Wie karg iſt gegen dich die guͤtige Natur, Armſelige zwey-beinigte Figur! Hab’ ich nicht ihrer vier? Sprich ferner nicht: ich kann mich ruͤhren, laufen, gehen; Du arme Bluhme muſt beſtaͤndig ſtille ſtehen. Sprich, ſag’ ich, nicht alſo: ſonſt werd’ ich Voͤgel kriegen, Die ſagen: iſt der Menſch nicht plump? er kann nicht fliegen. Ey, pochſt du, ganz von Eifer rot, Wie elend, wie veraͤnderlich und fluͤchtig, Seyd ihr, wie ſo vergaͤnglich und wie nichtig! Biſt du nicht auch, wie wir, vielleicht ſchon morgen todt, Und muſt du nicht ſo wol zu Erden, Als ich mit meinen Blaͤttern, werden? Mehr Faͤlle richten dich als uns zu Grunde. Wir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen02_1727
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen02_1727/94
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 2. Hamburg, 1727, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen02_1727/94>, abgerufen am 19.03.2024.