Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740.

Bild:
<< vorherige Seite
Fabel.
Fabel.
Es stund ein starker Pfahl, auch eine schlanke Weyde
An einem breiten Fluß, der sich im Herbst ergossen.
Sie waren folglich alle beyde
Vom ausgetretnen Strom beflossen.
Nun fing der strenge Nord ergrimmt an, zu regieren,
Und durch den scharfen Hauch das Wasser zuzufrieren.
Von scharfen Schollen schwall die Strudel-reiche Fluth,
Und zeigt in Wirbeln, Schaum und Brausen, ihre Wuth,
Das Treib-Eis häufte sich, und preßt, im strengen Gange,
Was ihm entgegen stund, die Weyde beugte sich
Vor dem für sie zu starken Drange.
Jndessen, daß der Pfahl nicht um ein Haar breit wich,
Und durch sich selbst gesteift, noch Kraft noch Muth verlieret.
Allein des Eises Macht ward größer, und der Pfahl
Wurd auf einmal
Heraus gerissen, weggeführet.
Die Weide fühlte zwar auch an der Rinde Wunden:
Allein, sie hub so gut, als wie zuvor,
Nachdem das Eis vorbey, das Haupt empor,
Vom Pfahl indessen ward die Stelle nicht gefunden.
Du bist, geliebtes Vaterland, wie wir in alten Schriften lesen,
Bey nicht so allgemeinem Sturm gar oft ein Weydenbaum
gewesen.

So sey denn auch vor diesesmal,
Da mehr, als je, die Winde stürmen,
Und keine Stützen dich beschirmen,
Wie groß dein Recht auch, doch kein Pfahl.


Un-
K k 4
Fabel.
Fabel.
Es ſtund ein ſtarker Pfahl, auch eine ſchlanke Weyde
An einem breiten Fluß, der ſich im Herbſt ergoſſen.
Sie waren folglich alle beyde
Vom ausgetretnen Strom befloſſen.
Nun fing der ſtrenge Nord ergrimmt an, zu regieren,
Und durch den ſcharfen Hauch das Waſſer zuzufrieren.
Von ſcharfen Schollen ſchwall die Strudel-reiche Fluth,
Und zeigt in Wirbeln, Schaum und Brauſen, ihre Wuth,
Das Treib-Eis haͤufte ſich, und preßt, im ſtrengen Gange,
Was ihm entgegen ſtund, die Weyde beugte ſich
Vor dem fuͤr ſie zu ſtarken Drange.
Jndeſſen, daß der Pfahl nicht um ein Haar breit wich,
Und durch ſich ſelbſt geſteift, noch Kraft noch Muth verlieret.
Allein des Eiſes Macht ward groͤßer, und der Pfahl
Wurd auf einmal
Heraus geriſſen, weggefuͤhret.
Die Weide fuͤhlte zwar auch an der Rinde Wunden:
Allein, ſie hub ſo gut, als wie zuvor,
Nachdem das Eis vorbey, das Haupt empor,
Vom Pfahl indeſſen ward die Stelle nicht gefunden.
Du biſt, geliebtes Vaterland, wie wir in alten Schriften leſen,
Bey nicht ſo allgemeinem Sturm gar oft ein Weydenbaum
geweſen.

So ſey denn auch vor dieſesmal,
Da mehr, als je, die Winde ſtuͤrmen,
Und keine Stuͤtzen dich beſchirmen,
Wie groß dein Recht auch, doch kein Pfahl.


Un-
K k 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0543" n="519"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Fabel.</hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Fabel</hi>.</hi> </head><lb/>
          <lg type="poem">
            <l><hi rendition="#in">E</hi>s &#x017F;tund ein &#x017F;tarker Pfahl, auch eine &#x017F;chlanke Weyde</l><lb/>
            <l>An einem breiten Fluß, der &#x017F;ich im Herb&#x017F;t ergo&#x017F;&#x017F;en.</l><lb/>
            <l>Sie waren folglich alle beyde</l><lb/>
            <l>Vom ausgetretnen Strom beflo&#x017F;&#x017F;en.</l><lb/>
            <l>Nun fing der &#x017F;trenge Nord ergrimmt an, zu regieren,</l><lb/>
            <l>Und durch den &#x017F;charfen Hauch das Wa&#x017F;&#x017F;er zuzufrieren.</l><lb/>
            <l>Von &#x017F;charfen Schollen &#x017F;chwall die Strudel-reiche Fluth,</l><lb/>
            <l>Und zeigt in Wirbeln, Schaum und Brau&#x017F;en, ihre Wuth,</l><lb/>
            <l>Das Treib-Eis ha&#x0364;ufte &#x017F;ich, und preßt, im &#x017F;trengen Gange,</l><lb/>
            <l>Was ihm entgegen &#x017F;tund, die Weyde beugte &#x017F;ich</l><lb/>
            <l>Vor dem fu&#x0364;r &#x017F;ie zu &#x017F;tarken Drange.</l><lb/>
            <l>Jnde&#x017F;&#x017F;en, daß der Pfahl nicht um ein Haar breit wich,</l><lb/>
            <l>Und durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;teift, noch Kraft noch Muth verlieret.</l><lb/>
            <l>Allein des Ei&#x017F;es Macht ward gro&#x0364;ßer, und der Pfahl</l><lb/>
            <l>Wurd auf einmal</l><lb/>
            <l>Heraus geri&#x017F;&#x017F;en, weggefu&#x0364;hret.</l><lb/>
            <l>Die Weide fu&#x0364;hlte zwar auch an der Rinde Wunden:</l><lb/>
            <l>Allein, &#x017F;ie hub &#x017F;o gut, als wie zuvor,</l><lb/>
            <l>Nachdem das Eis vorbey, das Haupt empor,</l><lb/>
            <l>Vom Pfahl inde&#x017F;&#x017F;en ward die Stelle nicht gefunden.</l><lb/>
            <l>Du bi&#x017F;t, geliebtes Vaterland, wie wir in alten Schriften le&#x017F;en,</l><lb/>
            <l>Bey nicht &#x017F;o allgemeinem Sturm gar oft ein Weydenbaum<lb/><hi rendition="#et">gewe&#x017F;en.</hi></l><lb/>
            <l>So &#x017F;ey denn auch vor die&#x017F;esmal,</l><lb/>
            <l>Da mehr, als je, die Winde &#x017F;tu&#x0364;rmen,</l><lb/>
            <l>Und keine Stu&#x0364;tzen dich be&#x017F;chirmen,</l><lb/>
            <l>Wie groß dein Recht auch, doch kein Pfahl.</l>
          </lg>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">K k 4</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Un-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[519/0543] Fabel. Fabel. Es ſtund ein ſtarker Pfahl, auch eine ſchlanke Weyde An einem breiten Fluß, der ſich im Herbſt ergoſſen. Sie waren folglich alle beyde Vom ausgetretnen Strom befloſſen. Nun fing der ſtrenge Nord ergrimmt an, zu regieren, Und durch den ſcharfen Hauch das Waſſer zuzufrieren. Von ſcharfen Schollen ſchwall die Strudel-reiche Fluth, Und zeigt in Wirbeln, Schaum und Brauſen, ihre Wuth, Das Treib-Eis haͤufte ſich, und preßt, im ſtrengen Gange, Was ihm entgegen ſtund, die Weyde beugte ſich Vor dem fuͤr ſie zu ſtarken Drange. Jndeſſen, daß der Pfahl nicht um ein Haar breit wich, Und durch ſich ſelbſt geſteift, noch Kraft noch Muth verlieret. Allein des Eiſes Macht ward groͤßer, und der Pfahl Wurd auf einmal Heraus geriſſen, weggefuͤhret. Die Weide fuͤhlte zwar auch an der Rinde Wunden: Allein, ſie hub ſo gut, als wie zuvor, Nachdem das Eis vorbey, das Haupt empor, Vom Pfahl indeſſen ward die Stelle nicht gefunden. Du biſt, geliebtes Vaterland, wie wir in alten Schriften leſen, Bey nicht ſo allgemeinem Sturm gar oft ein Weydenbaum geweſen. So ſey denn auch vor dieſesmal, Da mehr, als je, die Winde ſtuͤrmen, Und keine Stuͤtzen dich beſchirmen, Wie groß dein Recht auch, doch kein Pfahl. Un- K k 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/543
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/543>, abgerufen am 26.04.2024.