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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 20. Die Gerichtsverfassung.
sprecheramt u. Priestertum, Z2 f. RG IV 215. K. Lehmann, Zur Frage nach
dem Ursprung des Gesetzsprecheramts, Z2 f. RG VI 193; derselbe, Königsfriede
der Nordgermanen S 11. 29. 65. 109. 125. 151. 166.

Einer der Grundzüge des germanischen Gerichtswesens ist die
Teilnahme der freien Volksgenossen an der Rechtsprechung. Die Ge-
richtsversammlungen waren öffentlich, sie tagten unter freiem Himmel,
gewöhnlich auf einem erhöhten, weithin kenntlichen oder durch sicht-
bare Bäume ausgezeichneten Orte. Die Gerichsstätte war häufig zu-
gleich Opferstätte1. Die altertümlichsten Ausdrücke, welche die
Sprache für den Begriff des Gerichtes bietet, weisen auf die Beteili-
gung des Volkes hin; sie haben den Wortsinn von Besprechung wie
das althochdeutsche und altsächsische mahal, mal2, das althoch-
deutsche spracha3, oder sie bedeuten die Zusammenkunft4 oder die
Versammlung, wie die oben Seite 128 f. genannten Wörter Thing,
mallus5, gemot und warf6. Das Wort Gericht bezeichnete ursprüng-
lich die Rechtsprechung, iudicium, iurisdictio, nicht die Gerichtsver-
sammlung oder die Gerichtsstätte.

Ding und Dingstätte sind dem Schutze der Götter geweiht7.
Der Eröffnung der Verhandlungen geht die Heiligung, die Hegung des
Dinges voraus. Dieselbe besteht in feierlichen Erklärungen, welche
in der Verkündigung des Dingfriedens gipfeln, und ist mit einer räum-

1 Grimm, RA S 793. Siehe unten Anm 7.
2 Muspilli 31: so der machteigo khuninc daz mahal kipannit. Muspilli 77:
mahalstetei. Ortschaft Mahaleihhi, Mahaleihhinga, jetzt Malching, in Meichelbeck
Nr 75. 363. 537. 1081. Mahal im Heliand 2891. Ahd. mahaljan, alts. mahlian
heisst sprechen. Davon Gemahl, vermählen. Grimm, WB VI 1452. Mahlstatt in
Schröders Register zu Grimms Weistümern, VII 314.
3 Grimm, RA S 746. Graff, Sprachsch. VI 382. Sprachas in den tiroli-
schen Weistümern III 337 Z. 7.
4 Ulfilas hat gaquumths, Zusammenkunft, für Gericht im Ev. Matthaei 5, 22.
5 Malloberg bedeutet die Gerichtsstätte. Siehe Sohm, Altd. R- u. GV S 66.
Gamallus heisst der Gerichtsgenosse, mallare, admallare klagen.
6 Warfen, soviel wie mallare, einen Warf werfen in den neumünsterschen
Kirchspielsgebräuchen, in der holsteinschen Dingformel bei Fuchsius, Introductio
in proc. Holsaticum S 223 und in dem niedersächsischen Weistum III 240. In ein-
zelnen friesischen Distrikten ist das Wort warf zur Bezeichnung des ganzen Ge-
richtsbezirkes verwendet worden. Stellinghewarf, Scoterwarf Richthofen, Unters.
II 697. Ebenso Geding in Baiern, Schmeller, Bayer. WB I 519.
7 In der norwegischen Gulathingslög findet sich die Bestimmung, dass alljähr-
lich am Gulathing ein Unfreier freigelassen werden solle und ebenso je ein weiterer
Unfreier in jedem einzelnen Volklande innerhalb des Dingverbands. Diese Frei-
lassungen sind in christlicher Zeit an die Stelle heidnischer Menschenopfer getreten.
K. Maurer, Die Entstehungszeit der älteren Gulathingslög S 148; ders., Die Frei-
gelassenen nach norw. Rechte, Münchner Sitzungsber. 1878 S 24.

§ 20. Die Gerichtsverfassung.
sprecheramt u. Priestertum, Z2 f. RG IV 215. K. Lehmann, Zur Frage nach
dem Ursprung des Gesetzsprecheramts, Z2 f. RG VI 193; derselbe, Königsfriede
der Nordgermanen S 11. 29. 65. 109. 125. 151. 166.

Einer der Grundzüge des germanischen Gerichtswesens ist die
Teilnahme der freien Volksgenossen an der Rechtsprechung. Die Ge-
richtsversammlungen waren öffentlich, sie tagten unter freiem Himmel,
gewöhnlich auf einem erhöhten, weithin kenntlichen oder durch sicht-
bare Bäume ausgezeichneten Orte. Die Gerichsstätte war häufig zu-
gleich Opferstätte1. Die altertümlichsten Ausdrücke, welche die
Sprache für den Begriff des Gerichtes bietet, weisen auf die Beteili-
gung des Volkes hin; sie haben den Wortsinn von Besprechung wie
das althochdeutsche und altsächsische mahal, mâl2, das althoch-
deutsche sprâcha3, oder sie bedeuten die Zusammenkunft4 oder die
Versammlung, wie die oben Seite 128 f. genannten Wörter Thing,
mallus5, gemôt und warf6. Das Wort Gericht bezeichnete ursprüng-
lich die Rechtsprechung, iudicium, iurisdictio, nicht die Gerichtsver-
sammlung oder die Gerichtsstätte.

Ding und Dingstätte sind dem Schutze der Götter geweiht7.
Der Eröffnung der Verhandlungen geht die Heiligung, die Hegung des
Dinges voraus. Dieselbe besteht in feierlichen Erklärungen, welche
in der Verkündigung des Dingfriedens gipfeln, und ist mit einer räum-

1 Grimm, RA S 793. Siehe unten Anm 7.
2 Muspilli 31: sô der machtîgo khuninc daz mahal kipannit. Muspilli 77:
mahalstetî. Ortschaft Mahaleihhi, Mahaleihhinga, jetzt Malching, in Meichelbeck
Nr 75. 363. 537. 1081. Mahal im Heliand 2891. Ahd. mahaljan, alts. mahlian
heiſst sprechen. Davon Gemahl, vermählen. Grimm, WB VI 1452. Mahlstatt in
Schröders Register zu Grimms Weistümern, VII 314.
3 Grimm, RA S 746. Graff, Sprachsch. VI 382. Sprâchâs in den tiroli-
schen Weistümern III 337 Z. 7.
4 Ulfilas hat gaquumþs, Zusammenkunft, für Gericht im Ev. Matthaei 5, 22.
5 Malloberg bedeutet die Gerichtsstätte. Siehe Sohm, Altd. R- u. GV S 66.
Gamallus heiſst der Gerichtsgenosse, mallare, admallare klagen.
6 Warfen, soviel wie mallare, einen Warf werfen in den neumünsterschen
Kirchspielsgebräuchen, in der holsteinschen Dingformel bei Fuchsius, Introductio
in proc. Holsaticum S 223 und in dem niedersächsischen Weistum III 240. In ein-
zelnen friesischen Distrikten ist das Wort warf zur Bezeichnung des ganzen Ge-
richtsbezirkes verwendet worden. Stellinghewarf, Scoterwarf Richthofen, Unters.
II 697. Ebenso Geding in Baiern, Schmeller, Bayer. WB I 519.
7 In der norwegischen Gulaþíngslög findet sich die Bestimmung, daſs alljähr-
lich am Gulaþíng ein Unfreier freigelassen werden solle und ebenso je ein weiterer
Unfreier in jedem einzelnen Volklande innerhalb des Dingverbands. Diese Frei-
lassungen sind in christlicher Zeit an die Stelle heidnischer Menschenopfer getreten.
K. Maurer, Die Entstehungszeit der älteren Gulaþíngslög S 148; ders., Die Frei-
gelassenen nach norw. Rechte, Münchner Sitzungsber. 1878 S 24.
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[144/0162] § 20. Die Gerichtsverfassung. sprecheramt u. Priestertum, Z2 f. RG IV 215. K. Lehmann, Zur Frage nach dem Ursprung des Gesetzsprecheramts, Z2 f. RG VI 193; derselbe, Königsfriede der Nordgermanen S 11. 29. 65. 109. 125. 151. 166. Einer der Grundzüge des germanischen Gerichtswesens ist die Teilnahme der freien Volksgenossen an der Rechtsprechung. Die Ge- richtsversammlungen waren öffentlich, sie tagten unter freiem Himmel, gewöhnlich auf einem erhöhten, weithin kenntlichen oder durch sicht- bare Bäume ausgezeichneten Orte. Die Gerichsstätte war häufig zu- gleich Opferstätte 1. Die altertümlichsten Ausdrücke, welche die Sprache für den Begriff des Gerichtes bietet, weisen auf die Beteili- gung des Volkes hin; sie haben den Wortsinn von Besprechung wie das althochdeutsche und altsächsische mahal, mâl 2, das althoch- deutsche sprâcha 3, oder sie bedeuten die Zusammenkunft 4 oder die Versammlung, wie die oben Seite 128 f. genannten Wörter Thing, mallus 5, gemôt und warf 6. Das Wort Gericht bezeichnete ursprüng- lich die Rechtsprechung, iudicium, iurisdictio, nicht die Gerichtsver- sammlung oder die Gerichtsstätte. Ding und Dingstätte sind dem Schutze der Götter geweiht 7. Der Eröffnung der Verhandlungen geht die Heiligung, die Hegung des Dinges voraus. Dieselbe besteht in feierlichen Erklärungen, welche in der Verkündigung des Dingfriedens gipfeln, und ist mit einer räum- 1 Grimm, RA S 793. Siehe unten Anm 7. 2 Muspilli 31: sô der machtîgo khuninc daz mahal kipannit. Muspilli 77: mahalstetî. Ortschaft Mahaleihhi, Mahaleihhinga, jetzt Malching, in Meichelbeck Nr 75. 363. 537. 1081. Mahal im Heliand 2891. Ahd. mahaljan, alts. mahlian heiſst sprechen. Davon Gemahl, vermählen. Grimm, WB VI 1452. Mahlstatt in Schröders Register zu Grimms Weistümern, VII 314. 3 Grimm, RA S 746. Graff, Sprachsch. VI 382. Sprâchâs in den tiroli- schen Weistümern III 337 Z. 7. 4 Ulfilas hat gaquumþs, Zusammenkunft, für Gericht im Ev. Matthaei 5, 22. 5 Malloberg bedeutet die Gerichtsstätte. Siehe Sohm, Altd. R- u. GV S 66. Gamallus heiſst der Gerichtsgenosse, mallare, admallare klagen. 6 Warfen, soviel wie mallare, einen Warf werfen in den neumünsterschen Kirchspielsgebräuchen, in der holsteinschen Dingformel bei Fuchsius, Introductio in proc. Holsaticum S 223 und in dem niedersächsischen Weistum III 240. In ein- zelnen friesischen Distrikten ist das Wort warf zur Bezeichnung des ganzen Ge- richtsbezirkes verwendet worden. Stellinghewarf, Scoterwarf Richthofen, Unters. II 697. Ebenso Geding in Baiern, Schmeller, Bayer. WB I 519. 7 In der norwegischen Gulaþíngslög findet sich die Bestimmung, daſs alljähr- lich am Gulaþíng ein Unfreier freigelassen werden solle und ebenso je ein weiterer Unfreier in jedem einzelnen Volklande innerhalb des Dingverbands. Diese Frei- lassungen sind in christlicher Zeit an die Stelle heidnischer Menschenopfer getreten. K. Maurer, Die Entstehungszeit der älteren Gulaþíngslög S 148; ders., Die Frei- gelassenen nach norw. Rechte, Münchner Sitzungsber. 1878 S 24.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/162>, abgerufen am 26.04.2024.